Gabe der Jungfrau
mich an meine eigene!«, lachte anna Maria.
»Ja, so könnte man es sehen. aber ich erblickte damals einen alten, grauhaarigen Mann. Und mein Bein war bei dem Sturz gebrochen. Der alte hatte mich zu sich in die Höhle gebracht. Ich weiß zwar nicht, wie er das anstellte, aber als ich erwachte, war mein Bein bereits geschient. Zwei Monate musste ich bei ihm bleiben, und in dieser Zeit erzählte er mir von seinem Leben. Einst war er apotheker gewesen, der ferne Länder bereiste, um fremde Kräuter zu studieren. als er von einer dieser Reisen in sein Heimatdorf eine Wölfin mitbrachte, die er einem Jäger abgekauft hatte, weil der sie in einem Käfig misshandelte, verlangten die Menschen im Dorf, dass er den Wolf töten solle. Doch der alte weigerte sich und entließ die Wölfin in die Freiheit. So kam das Gerücht auf, er selbst sei ein Werwolf. Die Dorfbewohner nahmen ihn daraufhin gefangen und wollten ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Doch bevor sie das tun konnten, wurde das Dorf von einem Rudel Wölfe überfallen, und der Mann konnte fliehen. Seitdem verkroch er sich in der Höhle und lebte allein. Seit Jahren hatte er mit keiner Menschenseele gesprochen und wollte von mir wissen, was außerhalb des Waldes vor sich ging. Wie die Luft zum atmen sog er meine Berichte in sich auf. Im Gegenzug erzählte er mir alles über Wölfe, denn in den Wochen, die ich bei ihm verbrachte, zog er einen Wurf Wolfswelpen auf. Eines der Jungen war tiefschwarz.«
Anna Maria setzte sich auf. »War das der Wolf mit den glühenden
augen?« Veit nickte. als ein Blitz den Himmel für einen Moment erhellte, konnte anna Maria den traurigen Blick in seinen augen erkennen.
»Er war später der Leitwolf des Rudels, bis die Wut sein Wesen vollkommen veränderte.«
»Warum bist du damals bei dem alten geblieben?«, fragte anna Maria.
»Er hatte ein bösartiges Geschwür im Rücken, das nicht abheilte und sein Fleisch faulen ließ. Zusehends wurde es größer und verursachte ihm starke Schmerzen, zumal kein Kraut Linderung brachte. als er spürte, dass seine Zeit gekommen war, nahm er mir das Versprechen ab, dass ich mich um die kleinen Wölfe kümmern würde. Eines Nachts verschwand er dann im Wald, und ich habe ihn nie wiedergesehen.«
Betroffen schwieg anna Maria. Mitfühlend streichelte sie über Veits arm. »Wusste dein Bruder, wo du warst?«
»Natürlich suchte Johann nach mir und fand mich, als ich mit den jungen Wölfen auf die Jagd ging. Es war nicht leicht, ihm zu erklären, dass ich nicht mehr zurückkommen würde. Mein neues Leben gefiel mir nämlich mehr und mehr. Und erst in der abgeschiedenheit hatte ich bemerkt, wie sehr ich des Kämpfens und Tötens müde war, und mir war klar, dass ich das Leben eines ›Wolfsbanners‹ meinem vorherigen Leben vorzog. auch wenn es Johann schwerfiel, er musste meinen Entschluss billigen – ich ließ ihm keine andere Wahl.«
»Hast du denn die Menschen nicht vermisst?«
»Anfangs schon. Doch dann habe ich an all das Böse gedacht, was ich erlebt hatte. an die zerstückelten Leichen und das Elend. So wurde die Sehnsucht nach menschlicher Gesellschaft immer schwächer.«
Veit schwieg einen Moment, und anna Maria glaubte, seinen Blick auf sich zu spüren. als er erneut sprach, klang seine Stimme rau. »Ich habe wirklich geglaubt, dass ich allein leben
könnte. Bis zu dem Tag, als ich dir begegnete. Da wusste ich, dass ich mich selbst belogen hatte.«
Erstaunt hob anna Maria den Kopf und suchte in der Dunkelheit Veits Blick. Sie konnte seinen warmen atem auf ihrem Gesicht spüren, und sein Bart kitzelte ihre Haut. Behutsam zog er sie näher zu sich heran. Sanft suchten seine Lippen die ihren, und bevor sie sie fanden, flüsterte Veit ihren Namen.
Nie zuvor hatte anna Marias Herz so schnell geschlagen, nie zuvor war ihre Haut so empfindsam gewesen. als seine Lippen sich öffneten, überzog ein wolliger Schauer ihren ganzen Körper. Wenn das Liebe war, dann wollte sie sich ihm hingeben – jetzt und in diesem augenblick.
Veits Kuss wurde fordernder. Seine Hände ertasteten anna Marias Körper, und als er ihr begehrliches Stöhnen hörte, begriff er, dass sie bereit war. Doch Veit hielt inne und löste sich sanft von ihr. Und im gleichen Moment wusste er auch, warum er das tat. Denn sein Gefühl für anna Maria hieß Liebe. Er begehrte sie nicht, weil der Druck in seinen Lenden stärker wurde, und auch nicht, weil ihr liebreizender anblick sein Herz schneller schlagen ließ. Bei
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