Gabe der Jungfrau
hatte keinen Klang.
Sie ging von Leiche zu Leiche und blickte in die leeren augen der toten Nonnen. Einige der Leiber waren mit Mistgabeln aufgespießt, andere aufgeschlitzt worden. Wieder andere baumelten, den Strick um den Hals, an dem einzigen Baum im Hof. Eine Ordensschwester hing mit entblößtem Gesäß über dem Rad eines Fuhrwerks. Im angesicht des Todes hatte sie die augen weit aufgerissen. Das Blut an ihren Beinen war getrocknet. Es war ein Bild des Grauens, das sich Veit und anna Maria bot.
»In diesem Kloster scheint der Teufel persönlich gewütet zu haben«, stammelte die junge Frau.
Plötzlich drang ein leises Stöhnen zu ihr durch und riss sie aus ihrer Betäubung. anna Maria blickte sich um und entdeckte zwei Ordensfrauen, die übereinander lagen. Die eine lag auf dem Bauch und wurde vom Körper der anderen fast völlig verdeckt.
»Veit!«, schrie anna Maria, der sogleich an ihre Seite gestürmt kam. Mit erhobenem Schwert stellte er sich neben sie. Wortlos zeigte anna Maria mit dem Finger auf die beiden Leiber. Wieder war ein Klagelaut zu hören.
Veit ließ das Schwert zu Boden gleiten, fiel auf die Knie und rollte behutsam den oberen Körper zur Seite. Er strich der Frau die blutverkrusteten Haare aus dem Gesicht, sie war tot. Eine hässliche Wunde klaffte in ihrer Stirn. als anna Maria das Gesicht der Nonne erkennen konnte, stammelte sie: »Schwester Gabriele!« und hielt sich schluchzend die Hand vor den Mund.
»Du kennst sie?«, fragte Veit. Bevor anna Maria antworten konnte, hörten sie erneut das Stöhnen. Veit drehte nun die Frau auf den Rücken, die unter der Toten gelegen hatte. Blut sickerte aus zwei Wunden in ihrer Brust.
»Bernadette!«, schrie anna Maria und sah, wie die Lider der angesprochenen kurz flackerten.
»Wir müssen sie ins Haus tragen!«, sagte Veit und hob die Verwundete vorsichtig hoch.
Nachdem Veit sich die Verletzungen der jungen Nonne angesehen hatte, wusste er, dass es keine Rettung für sie geben würde. anna Maria fragte mit leiser Stimme: »Wird sie sterben?«
Veit konnte nur nicken. »Wir werden bei ihr bleiben, bis sie es überstanden hat!«, versprach er und nahm anna Maria in den arm.
»Wer hat das getan? Wer ist zu so etwas fähig?«, fragte sie unter Tränen.
»Ich weiß es nicht. Bleib bei ihr! Ich gehe wieder nach draußen und beerdige die Toten.« anna Maria setzte sich neben die Sterbende. Behutsam ergriff sie deren kalte Hand.
Während anna Maria mit dem Daumen sanft über die Hand der Sterbenden strich, kamen ihr Gedanken an den Tag, an dem sie den beiden Ordensschwestern zum ersten Mal begegnet war. Es war der abend, an dem der Vater sehr aufgebracht war. Daran konnte sie sich noch gut erinnern. Er hatte einen heftigen Streit mit seinem ältesten Sohn Jakob ausgetragen, und anna Maria hatte sich nicht getraut, ihm ihr anliegen vorzubringen.
Mehlbach, Mai 1521
Anna Maria trieb ihre kleine Schafherde durchs Tal unter die blühenden apfelbäume. als sie den schmalen Bachlauf, der sich sanft durch die aue schlängelte, erreicht hatte, kniete sie sich nieder und labte sich an dem klaren Wasser. Zufrieden lehnte sie sich an den Stamm eines alten apfelbaums und schaute der grasenden Schafherde zu. Die Lämmer, die das Osterfest überlebt hatten, sprangen übermütig um sie herum.
Für einen Moment schloss anna Maria die augen und streckte der Sonne das Gesicht entgegen. Nur das Blöken der Schafe und das Summen der Insekten war zu hören. Erst am abend musste sie die Herde in den Stall zurücktreiben, bis dahin konnte sie sich ausruhen.
Plötzlich schlug anna Maria die augen auf. Beinahe hätte sie den auftrag der Mutter vergessen, einen Beutel voll Löwenzahnblätter zu sammeln.
Anna Maria sah sich um und stellte fest, dass die Wiese mit den gezackten, länglichen Blättern übersät war. Rasch füllte sie den Beutel und verzog dabei angewidert das Gesicht. Sie hasste den bitteren Geschmack des Salats, der aus diesen Blättern zubereitet wurde. Doch die Mutter achtete streng darauf, dass jeder im Frühling genügend davon aß. »Das reinigt den Körper vom langen Winter!«, mahnte sie streng, wenn die Tochter und der jüngste Sohn sich weigern wollten.
Das junge Mädchen mochte den Löwenzahn nur, wenn die gelben Blüten sich in weichen weißen Flaum verwandelten. Ihr Bruder Nikolaus lief dann wie ein junges Fohlen über die Wiese und trat gegen die Blüten, sodass Wolken aus weißen kleinen Flöckchen durch die Luft schwirrten.
Die
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