Gabe der Jungfrau
Maßlieben hingegen gefielen anna Maria sehr, zumal sie die ersten Blüten waren, die den Frühling ankündigten. Die Wiese war von den gelben Köpfchen mit den schmalen weißen Blättern übersät.
Als sie genügend Blumen gebrochen hatte, verflocht sie Stängel für Stängel zu einem Blütenkranz und begann zu singen. Glockenhell erklang ihre Stimme im Tal.
Mit der fertigen Blütenkrone im Haar legte sich anna Maria in die Wiese und schaute den vorbeiziehenden Wolken zu, als sie plötzlich Stimmen hörte. Hastig setzte sie sich auf.
Zwei Frauen in Ordenstracht kamen den kleinen Hügel herab
und schauten sich immer wieder um. Schon von weitem riefen die beiden Frauen dem Mädchen zu: »Bist du allein?« – »Ja!«, antwortete anna Maria, woraufhin die eine der beiden lachend losrannte und wie ein Lamm, das endlich aus seinem Verschlag durfte, umhersprang. außer atem stand sie vor anna Maria und hielt sich die Hüfte. Langsam kam die andere hinzu und sah ihre Begleiterin strafend an. Beide schienen nicht viel älter als anna Maria zu sein. Die Langsame war klein und gedrungen, die andere war das Gegenteil von ihr und schien nicht stillstehen zu können.
»Wer seid ihr?«, wollte anna Maria wissen.
Immer noch schwer atmend antwortete die Ungestüme: »Ich bin Schwester Bernadette, und das ist Schwester Gabriele. Hast du eben so himmlisch gesungen?«
Erschrocken blickte anna Maria auf. »Hat man das dort oben gehört?« Während Schwester Bernadette sich bückte und eine Blüte nach der anderen brach, sagte sie: »Ja! Wir sind deinem Gesang gefolgt. Du hast eine wunderbare Stimme, für die du dich nicht zu schämen brauchst!« Verlegen senkte anna Maria den Kopf.
»Woher kennst du den lateinischen Text? Lebst du auch in einem Kloster?«
Anna Maria errötete und antwortete schnell: »Nein, ich heiße anna Maria und bin die Tochter des freien Bauern Daniel Hofmeisters. Ich kann diese Sprache zwar singen, aber nicht verstehen.«
»Wir lebten im Kloster Lichtenberg, und nun sind wir auf dem Weg zu unseren Schwestern in der Nähe von Worms.«
Ungehalten sagte die dickliche Nonne: »Wenn die Äbtissin bemerkt, dass wir uns von dem Fuhrwerk entfernt haben, dann hören wir die Englein auf Erden singen.«
»Sie hält ihren Mittagsschlaf, und du weißt, dass dieser tief und fest ist. Bis Tantchen aufwacht, sind wir längst wieder bei ihr.« Lachend rückte Bernadette ihre Haube zurecht.
»Ja, du hast gut lachen. Sie ist deine Tante, und deshalb werde ich wieder alles ausbaden müssen!« Wütend funkelte Gabriele Bernadette an. Doch die bemerkte es nicht, denn sie hatte sich bereits im hohen Gras ausgestreckt und bat anna Maria, für sie ein Lied zu singen.
Verlegen stimmte anna Maria eine Weise über den Frühling und das Osterfest an. aufgeregt jubelte Schwester Bernadette: »Oh, das kenne ich! Das kenne ich!« und stimmte bereits die zweite Strophe an. Nun erklangen zwei helle Mädchenstimmen durchs Tal. Noch nie hatte anna Maria so leidenschaftlich und laut gesungen. Vor aufregung bekam sie heiße Wangen und feuchte Hände.
»Ich wollte, ich dürfte immer so singen!«
Erstaunt hob Bernadette die augenbrauen. »Die arbeit geht viel leichter von der Hand, wenn man dabei singt, nicht wahr, Gabriele?« Die hatte sich ebenfalls im Gras niedergelegt und schnarchte leise vor sich hin.
»Das mag wohl sein«, erwiderte anna Maria, »aber der Vater verbietet mir das Singen ebenso wie das Malen.«
Nachdenklich blickte Bernadette das Mädchen an, als ihre augen zu leuchten begannen und sie vorschlug: »Dann tritt in unseren Orden ein. Das Kloster nimmt gerne Mädchen wie dich auf, die über solch wunderbare Talente verfügen. Im Kloster kannst du den lieben langen Tag summen und singen. Natürlich nicht, wenn wir uns zum Gebet versammeln«, erklärte sie wichtig. »Und auch dein Geschick beim Malen wirst du im Kloster sicherlich nutzen können.« anna Maria konnte vor Freude kaum klar denken. Malen und singen nach Herzenslust? aufgeregt fragte sie: »Wie kann ich eurem Orden beitreten? Was würden meine Pflichten sein?«
Mit einem milden Lächeln auf den Lippen beantwortete Bernadette geduldig anna Marias Fragen. »Mein Vater wird meinem Wunsch bestimmt nicht zustimmen wollen, deswegen musst du
mir die Vorteile des Klosterlebens erklären, damit ich ihn überzeugen kann.« anna Maria wollte alles über den Orden, die Tradition und den alltag im Kloster wissen und sog Bernadettes Erzählung gierig in sich auf. als
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