Gabe der Jungfrau
jeder anderen wäre es so gewesen. Nicht aber bei anna Maria. Er begehrte sie, weil er sie liebte.
Als er spürte, wie anna Marias Körper sich wieder versteifte, erklärte er ihr: »Jede andere Frau, anna Maria, hätte ich jetzt zu meiner Geliebten gemacht. Doch du bist etwas Besonderes, und deshalb ist dies nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort.«
Anna Maria verstand nicht, was er meinte, doch bevor sie etwas erwidern konnte, flüsterte er: »Ich liebe dich!«
Das graue Morgenlicht erhellte schwach den Wald, als anna Maria in Veits armen erwachte. Seine augen waren geschlossen und seine Gesichtszüge entspannt. Gleichmäßig hob und senkte
sich sein Brustkorb. Da er noch schlief, konnte anna Maria in Ruhe sein Gesicht betrachten. Sein dicker Bart verdeckte fast vollständig Mund und Wangen. Vorsichtig strich sie ihm das Haar zurück, und nun kamen dunkle augenbrauen und eine hohe Stirn zum Vorschein. Sie entdeckte eine Narbe, die rechts über seine Schläfe bis zum Haaransatz verlief. Zärtlich fuhr sie mit der Fingerkuppe darüber, als Veit erwachte. Himmelblaue augen umrahmt von dunklen Wimpern strahlten sie an.
»Guten Morgen, meine Schöne!«, flüsterte er und zog anna Maria an sich, um sie zu küssen. als sie sich wieder voneinander lösten, stöhnte er mit einem schelmischen augenzwinkern: »Es fällt mir wirklich schwer, standhaft zu bleiben!«
Anna Maria lächelte. Dann fuhr sie erneut über die Narbe auf seiner Stirn und fragte: »Woher hast du die?«
»Als ich einst mit dem schwarzen Wolf um meinen Rang im Rudel kämpfte, hat er mich mit seiner Kralle verletzt. Und ich habe noch eine weitere Narbe bei diesem Kampf davongetragen.« Veit zeigte auf sein Kinn.
Anna Maria lachte. »Die ist unter deinem Bart aber gut versteckt.«
»Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mich rasieren und dir die Narbe zeigen«, versprach Veit ebenfalls lachend. Doch dann wurde er ernst. »Jetzt wird es aber Zeit! Wir müssen weiter.«
Nachdem sie etwas Brot und Käse gegessen hatten, zerstörte Veit den Unterstand, damit nicht zu erkennen war, dass hier jemand gelagert hatte. anna Maria sah sich suchend um.
»Die Wölfe werden uns folgen«, erklärte Veit, der ihren Blick zu deuten wusste.
Zwar hatte es aufgehört zu regnen, doch Wind kam auf, und anna Maria zog den klammen Pilgerumhang fester um sich. »Denkst du, dass es heute wieder schneien wird?«
Veit sah angestrengt zum Himmel. »Das kann ich dir nicht
sagen. Wir haben erst anfang März, da ist alles möglich.« als er ihren besorgten Blick sah, fragte er: »Warum fragst du?«
»Wegen meiner Brüder. In meinem Traum war der Boden mit Schnee bedeckt.«
Stumm nahm Veit sie in die arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Komm, anna Maria! Wir wollen keine Zeit verlieren.«
Als sie aus dem Wald heraustraten, folgten ihnen die vier Wölfe in sicherem abstand.
Gegen Mittag sahen Veit und anna Maria in der Ferne eine Rauchsäule in den Himmel steigen. Ihr Weg führte sie darauf zu, und beim Näherkommen wehte ihnen der Geruch verbrannter Erde entgegen. Vorsichtig durchquerten sie die langen Rebstockreihen eines Weinbergs. Je näher sie der Rauchsäule kamen, desto mehr veränderte sich der Weinberg. Die anfangs geordneten Reihen boten nun einen anblick der Verwüstung, als hätte ein Dutzend Pferde sie überrannt. Die Rebstöcke waren zertrampelt oder aus dem Boden gerissen worden.
Anna Maria und Veit konnten schließlich in der Ferne eine Mauer erkennen, und der Feuergeruch wurde zunehmend stärker.
Die Wölfe, die ihnen noch immer folgten, schienen den Brandgeruch zu fürchten, denn sie liefen winselnd den Weinberg hinauf und verschwanden zwischen den Rebstöcken.
Krähen zogen schreiend ihre Kreise. Zögerlich gingen anna Maria und Veit um die grob gehauene Steinwand herum, bis sie vor einem Eingang standen. Ein schweres Holztor hing schief in den Türangeln und war vom Rauch geschwärzt.
»Warte hier!«, befahl Veit. Doch anna Maria schüttelte den Kopf und umfasste ängstlich seinen Umhang. Veit zog sein Schwert, öffnete das Tor und ging hinein. anna Maria folgte ihm so dicht, dass sie gegen ihn prallte, als er abrupt stehen blieb. Die junge Frau stieß einen Schrei aus. Das Bild, das sich
anna Maria bot, ließ sie erstarren. Vergeblich versuchte Veit sie vor das Tor zu zerren, doch es war bereits zu spät.
Wie in Trance wankte anna Maria über den Hof. Sie hörte zwar, dass Veit zu ihr sprach, doch seine Stimme
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