Gabe der Jungfrau
erzählen. Doch bis jetzt hatte sie dazu noch keine Gelegenheit gehabt. als sie sich ihre Worte zurechtgelegt hatte und gerade ansetzen wollte, Matthias die Neuigkeit zu berichten, kam er ihr zuvor und sagte: »annabelle, wir haben heute mit Thomas Müntzer gesprochen. Stell dir vor, überall im Reich schließen sich Menschen zusammen und wollen gegen die Missstände kämpfen. Müntzer erzählte, dass sein Freund Hans Sippel in der Nähe von Eisenach ein Bauernheer aufgestellt hat, zu dem täglich weitere Männer stoßen.«
Matthias sprach wie berauscht weiter, doch annabelle hörte
nicht zu. Die Begeisterung, mit der er von den Ereignissen berichtete, machte ihr angst.
Mehrmals öffnete sie den Mund, um Matthias zu unterbrechen, doch zögerte immer wieder.
»Müntzer hat uns die Fahne gezeigt«, schwärmte Matthias jetzt. »Schade, dass du sie nicht sehen kannst, annabelle! auf glänzendem weißem Tuch ist ein großer Regenbogen zu sehen, unter dem auf Lateinisch der Spruch ›Das Wort des Herrn bleibe ewiglich‹ gestickt ist. Müntzer hat es uns übersetzt. In wenigen Tagen werden wir aufbrechen, und Hauser wird mit der Regenbogenfahne voranmarschieren. Wie gern würde ich meine Fahne ebenfalls zeigen, doch das hat Vater verboten. Trotzdem werde ich voller Stolz mein Fahnenstück unter meinem Hemd auf der Brust tragen. ach annabelle, endlich ist es so weit. Peter und ich können den auftrag unseres Vaters erfüllen!« Zufrieden streckte Matthias sich aus und war bald eingeschlafen.
Annabelle hingegen lag wach. In seiner Freude hatte Matthias nicht bemerkt, dass sie immer stiller geworden war. auch ihre Tränen hatte er nicht wahrgenommen. Enttäuscht presste sie ihr nasses Gesicht ins Kissen. Was sollte sie tun? annabelle wusste, dass es Matthias’ Pflicht war, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. aber war es nicht auch seine Pflicht, bei ihr und dem Kind zu sein? Die Sorgen lasteten schwer auf ihr und nahmen ihr die Luft zum atmen. annabelle lag noch lange wach und grübelte. Der Morgen kündigte sich bereits an, als sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte.
Hauser wurde durch ein zaghaftes Klopfen an seiner Stubentür geweckt. Verschlafen schlurfte er zur Tür, doch als er öffnete und annabelle auf dem Gang stehen sah, war er schlagartig hellwach. »Ist etwas passiert?«, fragte er bestürzt, als er ihr bleiches Gesicht bemerkte.
»Ich muss mit Euch sprechen, Herr Hauser«, sagte annabelle mit zittriger Stimme. Nachdem er sich angezogen hatte, folgte er ihr in die Badestube, wo sie ungestört waren.
Als annabelle ihm berichtet hatte, was ihr auf dem Herzen lag, verschleierten Tränen ihren Blick. »Es ist Matthias’ Herzenswunsch mit Euch zu ziehen und für ein besseres Leben zu kämpfen. Würde er von dem Kind erfahren, das ich erwarte, würde er hierbleiben, aber unglücklich sein. Ich kann ihn jedoch nur ziehen lassen, wenn ich weiß, dass er gesund zurückkehren wird. Deshalb, Herr Hauser, möchte ich Sie bitten, auf meinen Matthias aufzupassen, damit ihm kein Leid geschieht. Er ist so voller Tatendrang und so ungestüm, dass ich befürchte, er könnte in eine gefährliche Lage geraten. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie ein auge auf ihn haben und auf ihn aufpassen werden.«
»Annabelle, das ist eine große Verantwortung, die du mir auferlegst«, sagte Hauser und fühlte sich sichtbar unwohl beim Gedanken daran, welche Rolle annabelle ihm zudachte.
Die junge Frau nickte. »Dessen bin ich mir bewusst, Herr Hauser. aber Sie sind der Einzige, auf den er hören wird.«
Hauser dachte an seinen Sohn Florian. Wie glücklich wäre er, wenn es jemanden gäbe, der auf Florian achtgeben und ihn vor Leid bewahren würde. Deshalb sagte Hauser schließlich: »Ich verspreche dir, annabelle, dass ich mich um Matthias kümmern werde.«
Dankbar umarmte ihn die junge Frau.
»Du bringst ein großes Opfer, mein Kind!«, fügte Hauser anerkennend hinzu.
Annabelle konnte kaum die Tränen zurückhalten. »Glauben Sie mir, Herr Hauser, ich hatte mir alles anders vorgestellt. Nun weiß ein Fremder, dass ich ein Kind erwarte, der Vater des Kindes jedoch nicht. Und was wird erst sein, wenn ein jeder sehen kann, dass ich ein Kind bekomme? Und wie sage ich es meinem
Vater?« annabelle schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht. Hauser sah, wie verzweifelt sie war, und legte väterlich den arm um die junge Frau, um ihr ein wenig Trost zu spenden.
Als der erste Hahnenschrei erklang, stand annabelle auf und
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