Gabe der Jungfrau
Er wusste, dass es jetzt galt, die Masse zu begeistern, und es musste ihm allein mit der Kraft seiner Rede gelingen, die Knechte, die vor ihm standen, in ihren Gedanken in freie Bürger zu wandeln. Die Männer mussten in sich spüren, wie sie nicht länger feige waren, sondern mutig wurden. Mit donnernder Stimme erinnerte Müntzer sie daran, dass der aufstand auf Gottes Befehl begonnen hatte. Im gleichen atemzug
verfluchte er die Fürsten als Gottlose, die versuchten, Zwietracht unter den gläubigen Menschen zu säen.
»Fürchtet die Geschütze nicht«, rief Müntzer den Männern zu. »Erinnert euch, dass Gideon, Jonathan und David mit wenigen auserwählten viele Tausend geschlagen haben. Erinnert euch, was unsere Fürsten tun? Sie nehmen sich der armen nicht an, hören die einfachen Leute nicht, sprechen nicht Recht, halten die Straßen nicht von Gesindel frei, wehren nicht Mord und Raub, strafen keinen Frevel, verteidigen nicht die Witwen und Waisen, helfen nicht den armen, schaffen nicht, dass die Jugend recht erzogen wird.«
Inzwischen hatte das Wetter umgeschlagen, und nach dem Regen klarte der Himmel auf. Während Münzter sprach, schwenkte Hauser wie befohlen die Regenbogenfahne über dem Kopf des Predigers, als plötzlich am Himmel ein echter Regenbogen zu sehen war.
»Seht«, rief Müntzer, »Gott sendet uns ein Zeichen. Er sagt uns, dass er auf unserer Seite steht, und er droht den mörderischen Fürsten. Er will nicht, dass ihr gemeinsame Sache mit den Gottlosen macht.«
Eine Woge der Begeisterung ging durch die Menge. Hunderte stimmten den Choral »Komm, Heiliger Geist, Herre Gott!« an. andere riefen durcheinander: »Tot oder lebendig! Dreinschlagen! Haun und Stechen! Nur die Bluthunde nicht schonen!«
Die Worte Müntzers und der plötzliche Regenbogen hatten die Zuhörer in einen Rausch versetzt. Plötzlich herrschte in der Wagenburg ein wildes Gedränge, da nun auch die Frankenhauser und weitere Haufen aus der Stadt herbeistürmten, um sich dem Kampf zu stellen. Die aufständischen bemerkten jedoch nicht, wie sie dabei ihre Verteidigungsposten verließen.
Landgraf Philipp von Hessen erkannte sogleich die plötzliche Unordnung innerhalb der Wagenreihen von seinem Stützpunkt aus und wusste, dass die Gelegenheit günstig war.
Obwohl der vereinbarte Waffenstillstand noch immer galt, ließ Philipp seine Geschütze abfeuern und gab damit dem fürstlichen Heer das Zeichen zum angriff. Völlig unvermutet stürmten die fürstlichen Reiter zusammen mit dem Fußvolk los und überrannten die Wagenburg.
Die aufständischen waren von dem vehementen angriff dermaßen überrascht, dass kaum einer Zeit hatte, zu den Waffen zu greifen. Einige wenige konnten sich mit Dreschflegeln, Sensen oder sonstigen Hieb- und Stichwaffen verteidigen. Da Landgraf Philipp seine Geschütze jedoch taktisch klug hatte aufstellen lassen, gab es für die überrumpelten Bauern kein Entkommen.
Als die erste Geschützkugel innerhalb der Wagenburg einschlug und Erdreich, Gliedmaßen und Leiber durch die Gegend flogen, versuchten viele Bauern in Todesangst in die Stadt zu fliehen, da sie sich dort in Sicherheit wähnten. Verwundete krümmten sich auf dem Boden und wurden von den Fliehenden totgetrampelt. andere waren nach dem aufschlag der Kanonenkugel taub und orientierungslos. Mit blutenden Ohren drehten sie sich im Kreis und wussten nicht, wohin sie laufen sollten.
Johannes hatte sich während Müntzers Predigt von seinen Freunden entfernt. als ein Kanonengeschoss in einen Wagen einschlug, wurde er von Splittern getroffen. Sofort rannte Matthias zu ihm, doch fand er Johannes nur noch leblos und verstümmelt vor. Schreiend fiel Matthias auf die Knie und merkte nicht, dass er inmitten einer Blutlache kniete.
Peter kroch aus seiner Deckung hervor und zog seinen Bruder hinter den Schutz eines umgekippten Wagens. Gleichzeitig schweifte sein Blick umher und suchte in dem Durcheinander nach der Regenbogenfahne. aus den augenwinkeln konnte Peter
erkennen, wie Landsknechte in den Kreis der Wagenburg stürmten und jeden aufständischen niedergemetzelten, der ihnen unterkam. Das Flehen der Bauern um Gnade und ihre Gebete gingen in dem lauten Tamtamratattatam der Trommler unter. Schlachtrösser sprangen über die Barrikaden und ließen den Boden erbeben. Fliehende Bauern wurden von ihren mächtigen Hufen getroffen und niedergeritten.
Die Luft war erfüllt von den angst- und Schmerzensschreien der Verwundeten, dem lauten Knallen der
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