Gabe der Jungfrau
überzeugen, ihm zu folgen, denn Gott habe ihm in einem Traum offenbart, dass er alle Bürger des neuen Gottesstaates der aufgehenden Sonne entgegenführen müsse. Nur dann werde der Sieg gewiss sein. Deshalb zog Müntzer gen Osten, nach Frankenhausen.«
»Aber warum seid Ihr nicht mit ihm gegangen? Man erzählte mir, dass ihm nur wenige Hundert Männer gefolgt seien.«
»Das ist wohl wahr! aber auch ich hatte kurz vor dem Eichsfeldzug einen Traum und war überzeugt, dass dieser Kampf die Vernichtung des adels bringen würde. Doch nichts dergleichen ist geschehen. außerdem, junger Freund, liegt mir Mühlhausen als meine Vaterstadt mehr am Herzen als Frankenhausen.«
Annabelle überredete anna Maria, ein warmes Bad zu nehmen.
»Du hattest keine Gelegenheit, Matthias und Peter zu sehen?«, fragte anna Maria ungläubig.
Annabelle schüttelte den Kopf. »Nein, sie waren nur zwei Tage in der Stadt, und diese Zeit verbrachten sie mit Müntzer. Bevor Matthias erneut abreiste, schickte er mir einen Boten, der mir ausrichtete, dass es ihnen gut ginge.« als sie von Matthias sprach, leuchteten ihre augen. »Leider gelang es mir nicht, ihnen zu sagen, dass du sie suchst«, fügte annabelle hinzu.
»Ist schon gut«, erwiderte anna Maria, »warten wir ab, was Veit im Gasthaus in Erfahrung bringen kann.«
Anna Maria schmiegte sich in das weiche Betttuch und genoss die warme Luft, die durch das kleine Fenster strich. Das Bad und das Gespräch mit annabelle hatten ihr gutgetan, und sie spürte, wie der Druck in ihrem Kopf nachließ.
Sie träumte von einem Schlachtfeld. Unfähig sich zu bewegen, sah sie sich im Nachthemd inmitten von Toten und Verletzten stehen. Schnee wirbelte durch die Luft und vermischte sich am Boden mit dem Blut, das in einer breiten Rinne durch den acker floss. Sie sah ihre Brüder – der eine kniete, der andere lag in seinem eigenen Blut auf dem Boden. Die Worte, die sie miteinander sprachen, kannte sie bereits – es waren die gleichen wie in all den Träumen zuvor. Tränen trübten ihren Blick. als sie sich wieder rühren konnte und nicht mehr wie gelähmt an einem Fleck verharren musste, eilte sie auf Peter und Matthias zu. Doch als sie vor ihnen stand, bemerkten die Brüder sie nicht. Um auf sich aufmerksam zu machen, beugte anna Maria sich zu ihnen hinunter und erstarrte – der Schnee hatte sich in asche verwandelt.
Anna Maria wälzte sich unruhig hin und her. Im Halbschlaf spürte sie, wie Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Plötzlich erschauerte sie, denn eine ungewöhnliche Kälte kroch ihre Beine hinauf. anna Maria schrie aus Leibeskräften und wusste doch, dass sie niemand hören würde. In Gedanken murmelte sie: ›Ich hab dich erkannt, du bist gebannt!‹ Doch es nützte nichts, die Kälte ließ nicht nach. Dann wehte ihr unvermittelt ein eisiger Lufthauch ins Gesicht, und sie erstarrte und wagte kaum zu atmen. In diesem augenblick wusste sie, dass jemand die Kammer betreten hatte, um von ihr abschied zu nehmen.
Kapitel 20
Thomas Müntzer stand auf der Stadtmauer von Frankenhausen und blickte hinunter zu den Männern, die ihr Lager auf einem weiten Feld vor den Toren der Stadt aufgeschlagen hatten. Selbst an unwegsamen, felsigen Stellen am Fuß des nahen Hausbergs
konnte er Lagerfeuer brennen sehen, vor denen Männer saßen. Von hier oben schätzte er die aufständischen auf mehrere Tausend Mann aus Langensalza, Nordhausen, Sondershausen, Dingelstädt, Sangerhausen und den Dörfern ringsum. Sie hatten sich außerhalb der Stadt versammelt, um mit Müntzer für ihre Rechte zu kämpfen. Trotzdem war er nicht zufrieden. Erneut hatte er feststellen müssen, dass seine Macht bei den aufständischen nicht so groß war, wie er es sich erhofft hatte. Warum sonst waren ihm nur wenige Hundert Mann nach Frankenhausen gefolgt? Es verbitterte ihn, dass auch Heinrich Pfeiffer ihn nicht begleitete und stattdessen in Mühlhausen geblieben war.
Müntzer fürchtete, dass den wenigsten der versammelten Männer das Schicksal des Reichs am Herzen lag. Die meisten waren nur gekommen, um für ihre eigene Region zu streiten.
Müntzers Blick verfinsterte sich, als er die mansfeldischen Bergknappen unter den Bauernrebellen ausmachen konnte. auch von ihnen waren nur wenige seinem aufruf gefolgt, obwohl er immer geglaubt hatte, gerade unter den Bergleuten eine große anhängerschaft zu haben. War es ihrem Landesherrn, dem Grafen Ernst von Mansfeld, gelungen, sie umzustimmen?‹, überlegte Müntzer.
Weitere Kostenlose Bücher