Gabe des Blutes
sterben sehen, den Naturgewalten der Gegenden, durch die sie gezogen waren, ausgesetzt, und Opfer von sowohl zwei- als auch vierbeinigen Tieren. Und das alles zwei Jahrzehnte lang. Das hatte seinen Tribut gefordert. Er hatte sich geschworen, dass sein Volk nie wieder solche Schrecken durchleben sollte. Er hatte sein Versprechen gehalten, und es war ihm gelungen, indem er durch die Jahre schlau, gerissen und sogar paranoid gewesen war.
Er war in diese finsteren Gedanken versunken, als er spürte, wie sich warme, raue Finger auf seine legten. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hand, die seine hielt und ihn tröstete, während er sichtlich bekümmert war. Doch die Geste brachte ihn nur noch mehr auf, weil er ihre zerschundenen Fingernägel und die heilenden Wunden auf ihren Handflächen sehen konnte und wusste, dass sie sich die Verletzungen zugezogen hatte, als sie durch die Wildnis gekrochen war. Er hatte kein Recht, sie ohne den geringsten Beweis zu verdächtigen. Selbst Darcios intimes Durchforsten ihres Körpergedächtnisses hatte keinen Beweis erbracht, dass sie einem Sánge schaden wollte, und es war nicht Reules Art, grundlos voreingenommen zu sein, nicht einmal den Schakalen gegenüber.
Doch er nahm an, ein Teil des Problems war, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Sie war gerade einmal drei Tage im Wohnturm. Wie würde es ihm erst ergehen, wenn sie einen Winter lang bei ihnen bliebe?
Doch was spielte das für eine Rolle? Sie wegen seiner eigenen Unzulänglichkeiten schlecht zu behandeln war verwerflich. Reule beschloss, sich unter Kontrolle zu bringen. Egal, was sie zuvor gewesen war, in diesem Augenblick war sie unschuldig und furchtbar verloren und allein. Mit der Zeit würde das Mysterium um seinen Findling gelüftet werden.
»Mystique«, sagte er unvermittelt. Und im gleichen Moment wusste er, dass es perfekt war. Nach dem Lächeln zu schließen, das in ihrem Gesicht erstrahlte, war sie einverstanden.
»Er ist wunderbar, Reule. Danke.«
Reule stellte fest, dass ihm der Name ebenfalls gefiel. »Aber«, sagte er mit einem scherzhaften Grinsen, »vielleicht werde ich dich trotzdem ab und zu Kébé nennen.«
»Nenn mich, wie immer es dir beliebt, mein Primus«, sagte sie mit leicht geschürzten Lippen, während ihre Augen vergnügt lächelten. »Solange es schmeichelhaft und voller Lob ist«, sagte sie mit einem listigen Blick.
Reule musste lachen. »Ich werde einen Handel mit dir machen«, sagte er, während er sie von seinem Schoß gleiten ließ und sich erhob. Sie ließ nicht los, doch er lächelte, während er ihre widerstrebenden Hände umfasste. »Ich werde dich mit Lob und Komplimenten überschütten, solange du mir versprichst, dass ich gehen darf, bevor Para hereinkommt. Sie kommt gerade die Treppe hoch, und ich habe nicht das Bedürfnis, mich für mein unangemessenes Verhalten dir gegenüber schelten zu lassen. Ich denke, sie betrachtet dich als kleines Mädchen, das ihren Schutz braucht.«
Mystique konnte sich kaum vorstellen, warum ein Sánge-Primus auf die Ansichten einer Dienerin achten sollte, doch erfreut stellte sie fest, dass Reule Rücksicht nahm, weil er Respekt und Zuneigung für sie empfand. Sie ließ ihn los und lehnte sich wieder im Bett zurück, als Para atemlos durch die Tür kam.
»Oh! Wie schön! Gott schütze dich, mein Kind, endlich bist du wach!« keuchte Pariedes, als sie die Tür schloss und zwischen ihrem Herrn und ihrem Schützling langsam und misstrauisch hin- und herblickte. »Ich wusste, dass dich der Primus rasch besänftigen würde. Bist du heute wach genug, um dich anzuziehen? Wir können ein Bad einlassen oder hinunter zu den Quellen gehen. Wenn du dazu in der Lage bist, kannst du am Tisch essen. Nun …«, Para fuchtelte mit den Händen, bevor sie sie unter die Schürze steckte, um ihre Nervosität zu verbergen, »natürlich entscheidest du. Ich muss sagen, du siehst sehr erholt aus.«
Reule folgte Pariedes’ abschätzendem Blick, als die das kleine schöne Mädchen, das auf einem nasskalten Dachboden zum Vorschein gekommen war, in Augenschein nahm. Reules Augen glitten über Mystiques Taille, ihre Hüften und ihre Beine, über die sanften Kurven, die er, wie er feststellte, schon nach kurzer Zeit gut kannte. Sobald sie wieder richtig essen würde, würde sie an den Stellen etwas fülliger werden und eine wunderbare Üppigkeit bekommen, was sie zu einer noch größeren Verführung machen würde, als sie ohnehin schon war.
»Wir haben uns
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