Gabe des Blutes
einen Namen in einer fremden Welt zu sein. Zumindest war sie frei, zu fühlen, zu sagen und zu denken, was sie wollte. Mehr als irgendjemand sonst, denn sie musste im Moment weder auf eine Gesellschaft Rücksicht nehmen noch auf irgendwelche Regeln. Als sie jedoch in sich hineinhorchte, ahnte sie, dass diese Dinge, was auch immer es war, tief in ihr verwurzelt waren.
»Reule«, sagte sie sanft und fuhr mit beiden Händen über die festen Muskeln seiner Arme und hinauf zu seinen breiten Schultern, »du bist kein Tier. Das sagen mir mein Instinkt und mein Geist ganz deutlich. Und ich habe das Gefühl, dass ich zu der Sorte Frauen gehöre, die immer recht haben.«
Er stieß ein erstauntes Lachen aus, und sie lächelte ihn strahlend an. Seine Hände lösten sich von ihrer Taille, und gleich darauf hielt er ihren Kopf umfasst, und seine schwieligen Daumen strichen über ihre hohen Wangenknochen, während er sie mit seinen grün und golden funkelnden Augen unverwandt anblickte. Sie wusste zwar, dass sie klein war, doch in seinen Händen fühlte sie sich ungeheuer zerbrechlich. Die Schwielen verrieten ihr, dass der Mann an harte körperliche Arbeit gewöhnt war, und die Muskeln unter ihren Fingern bewiesen es ebenfalls. Wahrscheinlich könnte er sie zu Staub zermalmen, wenn er wollte.
»Du hast ein wunderschönes Lächeln, Kébé «, murmelte er so leise, dass sich ein leichtes Vibrieren von seinen Händen auf ihre Wangenknochen übertrug. Es kitzelte. Seine Daumen glitten zu ihrem Mund hinab und strichen über die zarte Haut ihrer Unterlippe. »Deine Wunden sind erstaunlich schnell verheilt«, bemerkte er.
Sie hatte keinen Spiegel, außer seinen Augen und dem Ausdruck in seinem Gesicht. Nur sein anerkennender Blick sagte ihr, dass die Prellungen wahrscheinlich verschwunden waren und ihre rissigen Lippen heilten. Sie lächelte und strich mit den Fingerspitzen über die warme Haut in seinem Nacken.
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte sie und genoss das Gefühl ihrer Lippen, die über seine Daumen rieben, während sie sprach.
»Bitte«, sagte er schlicht.
»Du kannst mich nicht länger ›Findling‹ nennen. Oder zumindest nicht nur. Vielleicht sollten wir uns einen Namen für mich überlegen, bis ich mich wieder erinnern kann … Warum, was ist los?« Ihre Augen weiteten sich, als sie den wachsamen Ausdruck in seinem Gesicht sah, der bis in seine Fingerspitzen ausstrahlte. Seine haselnussbraunen Augen nahmen plötzlich einen harten Ausdruck an.
»Woher weißt du, dass Kébé Findling bedeutet?«, fragte er leise, während sich erneut Zweifel und Misstrauen in ihm ausbreiteten.
»Reule … ich weiß es nicht. Es ist einfach so. Ich kann diese Dinge nicht erklären, ich schwöre es dir, ich …«
»Entschuldige«, sagte er rasch und räusperte sich. »Das sollte kein Vorwurf sein.« Was nicht ganz stimmte. Reule wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Er wusste nur, dass sie seine Sinne und Gedanken durcheinanderbrachte wie niemand sonst. »Hast du schon über einen Namen nachgedacht? Irgendeine Vorliebe?«
»Ich … ich dachte, du schlägst vielleicht einen vor.« Sie klang kleinlaut, und Reule konnte ihre Verwirrung und Befangenheit spüren.
Sein launisches Verhalten war ihr unbegreiflich, und das wäre es auch für jemanden, der keine Hintergedanken hatte. Doch er glaubte nicht, dass sie welche hatte. Zumindest nicht im Moment. Er rief sich in Erinnerung, dass aufgrund der telepathischen Fähigkeiten niemand die Möglichkeit hatte, die Sánge auszuspionieren. Ein Betrüger würde schnell auffliegen, oder nicht? Vor allem direkt vor Reules Nase. Die Burg war voller Rudelgefährten, den fähigsten Männern seiner Spezies.
Doch wenn jemand als Spion erfolgreich sein wollte, würde er dann nicht die Muttersprache kennen und so auftreten, dass man ihm direkt Zugang zu den Abläufen der Sánge-Regierung gewährte? Und noch viel besser war es, wenn man den Verstand des Spions beeinflussen konnte, damit dieser selbst das eigentliche Ziel und die Bedeutung der Dinge, die er sah, nicht erkannte. Das würde es ihr ermöglichen, sich ohne Verdacht zu schöpfen unter sie zu mischen, ohne Hintergedanken und ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Und später könnte sie irgendwie zurückgeholt werden …
Reule seufzte und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Er klang allmählich paranoid. Aber hatte er nicht allen Grund dazu? So wie er aufgewachsen war? Er hatte ein Drittel seines Volkes an Hunger
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