Gabe des Blutes
die feuchtkalte, schimmlige Wand dabei nicht zu berühren. Ein paar Schimmelflecken waren giftig oder zersetzten Fleisch. Ein lautes Krachen hallte durch den Raum, und Reule erkannte schlagartig, wie instabil das ganze Gebäude war. Die Schakale waren verrückt, an so einem Ort zu bleiben. So verfault wie der Fußboden war, konnte er sich den Zustand des Daches über ihm gut vorstellen. Er blickte zurück zu Darcio, und sie machten sich ein Zeichen, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwinden sollten. Zumindest darin waren sie sich einig.
Reule atmete vorsichtig aus, als er die andere Seite des klaffenden Lochs erreichte, doch solange er auf den feuchten Dielen stand, war er nicht gewillt, sich zu entspannen. Behutsam bewegte er sich zu den aufgetürmten Kisten und blickte in die dunkle Ecke dahinter.
Das Einzige, was er sehen konnte, war eine blasse kleine Hand. Sein Herz setzte einen Moment aus, als ihm klar wurde, dass es sich wahrscheinlich um ein Kind handelte. Der Zorn flammte erneut in ihm auf, und er dachte wieder an die Schakale in den unteren Stockwerken, die noch am Leben waren. Wenn er das Grundstück verließ, würde keiner von ihnen mehr atmen, schwor er sich selbst grimmig. Sie hatten ihre allerletzten Opfer genossen.
Ganz vorsichtig packte Reule eine der Kisten und schob sie ein wenig beiseite. Das beängstigende Knarzen des Fußbodens zwang ihn augenblicklich dazu, innezuhalten.
»Zum Teufel«, murmelte er, stützte sich mit den Händen auf eine weitere Kiste und schwang sich mühelos über das mehr als einen Meter zwanzig hohe Hindernis. Er kam an der einzigen freien Stelle auf dem Fußboden auf, ohne dass er das Mädchen traf. Er hörte Darcio wüst fluchen, als er auf den krachenden Dielen landete.
Reule beachtete ihn nicht und ging in die Hocke, um sie in der Dunkelheit besser sehen zu können. Er griff nach ihrer Hand, während er sich vorbeugte. Ihr Schmerz war zu einer sich wiederholenden Melodie geworden, die in ihm erklang, doch sie erreichte keine extremen Höhen und Tiefen mehr. Sie wurde auch nicht schwächer, sondern passte sich nur der Intensität an.
Reule hatte keine Ahnung, was er vorfinden würde, doch hatte er gewiss nicht damit gerechnet, dass ihn eine zweite Hand an den Haaren packen und seinen Kopf mit überraschender Kraft herunterziehen würde, sodass sein Gesicht gegen eine zarte Wange gepresst wurde, die eiskalt war. Ein Lippenpaar, rau und weich zugleich, fuhr ihm über das Ohr, und schließlich strömte zumindest ihr warmer Atem über ihn. Der Gegensatz jagte ihm einen Schauer über den Rücken, noch verstärkt von ihrer krächzenden Stimme, als sie flüsterte: »Sánge, bautor mo.«
2
Sie erschlaffte so plötzlich, dass Reule sie fast nicht mehr auffangen konnte. Zum Glück versagten seine Reflexe nicht, und er drückte sie rasch an seinen warmen Körper. Ihrer war wie Eis. Wer weiß, wie lange sie dort gelegen und in der modrigen Kälte gezittert hatte. Sie war ein bisschen größer und schwerer, als er gedacht hatte, aber trotzdem federleicht. Sie war kein Kind mehr, sondern eher ein junges Mädchen im Übergang zur Frau. Sie wirkte klein und zerbrechlich in seinen Armen, doch ihre weichen Brüste an seiner Brust und die Rundung ihrer Hüften waren unverkennbar, als er die Hand um sie schob, um sie unter den Beinen zu fassen. Sie trug eine Art Nachthemd oder ein dünnes Hemdblusenkleid, doch es war feucht und stank modrig.
Selbst in der völligen Finsternis hatte sie gewusst, was er war.
Ein Sánge.
Er hatte weder Fangzähne noch Klauen sehen lassen, und bis auf seine dunkle Haut gab es kaum etwas, woran man ihn hätte erkennen können. Doch die Sánge waren nicht die Einzigen mit dunkler Haut auf der Welt, auch nicht in dieser Gegend. Es gab die Opia, wobei deren Farbe mehr in Richtung eines wunderschönen Ebenholztons ging, wenn sie reinrassig waren, als Tarnung in der Dunkelheit. Oder die Gemin, die in den heißen Sommern so schön braun wurden. Außerdem konnte sie seine Haut in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht sehen, überlegte er. Woher hatte sie gewusst, dass er ein Sánge war?
Sie hatte es gewusst. Da gab es keinen Zweifel. Sie hatte es ganz klar gesagt.
Was sie danach gesagt hatte, war zu verwirrend, als dass er darüber hätte nachdenken können, während er sich in einer so heiklen Situation mit einer verletzlichen Frau befand, die es zu beschützen galt. Er würde später darüber nachdenken, weil er sich beinahe sicher war, dass
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