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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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sensibel reagierte, war sie sich jeder neuen Wunde bewusst, die sich ein Rudelmitglied zufügte. Sie hatte von dieser Praxis erfahren, als Reule, kurz nachdem sie mit Amandos Leichnam zurückgekehrt waren, plötzlich verletzt war. Sie war zu ihm geeilt und hatte ihn getroffen, als er gerade die Turmkapelle verließ. Sie hatte verlangt, sich seine Wunde anschauen zu dürfen, und hatte darauf gedrängt, ihn zu heilen, doch er hatte sie kurzerhand abgewiesen. Er erlaubte ihr nicht einmal, seine Wunden vom Kampf mit den Schakalen zu heilen.
    Sie fragte sich, ob sie den Turm verlassen hätte, wenn sie gewusst hätte, wie schlimm es in den darauffolgenden Tagen wirklich werden würde. Wie lange würde das noch weitergehen? Sie spürte jede einzelne Wunde auf eine Weise, die keiner von ihnen begriff, jede war wie eine leise Stimme, die nach ihr rief. Je schwerer die Verwundung war, desto lauter die Stimme.
    Bei Reule war es am schlimmsten, weil er sich den Verlust von Amando mehr zu Herzen nahm als die anderen. Auch wenn sie sich ihm noch so vorsichtig näherte, er ließ es nicht zu. Er konnte es kaum ertragen, sie anzusehen, und das tat mehr weh, als sie erwartet hätte.
    Und Rye …
    Reules Thronfolger war ihr gegenüber unverhohlen feindselig. Sie konnte seinen Hass und seinen Zorn spüren, die er ihrem empathischen Verstand deutlich zeigte. Es traf sie tief, dass sie sein Vertrauen verloren hatte, doch noch mehr verletzte sie seine düstere Verachtung. Rye war freundlich zu ihr gewesen, selbst als er sich ihrer Motive nicht sicher war. Dieser verbitterte Mann machte sie, Reule und vor allem sich selbst verantwortlich für Amandos Tod.
    Das hatte sich ihr gezeigt, als sie allein spazieren gegangen war und eine Hand sich von hinten brutal um ihren Hals gelegt hatte. Sie war in eine dunkle Ecke gezerrt und fest gegen eine steinerne Wand geknallt worden. Sie sah Sterne und begriff kaum, dass es Rye war, der sie festhielt. Mit einem Gesicht, das nach ihrer jüngsten Heilung noch wund und rot war, knurrte er sie an, während er ihr die Kehle zudrückte.
    »Warum? Warum?«, verlangte er zu wissen. »Ich habe gesehen, was du für Chayne getan hast. Warum hast du ihn nicht retten können? Antworte mir, du herzloses Miststück! Hast du zu viel Energie darauf verschwendet, hinter meinem Primus herzuhecheln. Irgendwo herumzurennen, wo du nicht gebraucht wurdest? Um mich zu retten? Ich bin bloß ein Thronfolger. Amando war die zentrale Figur in unserem Handel, bei dem Frieden, den wir nur mühsam bewahren. Du hast neben ihm gesessen, hast dir Brot mit ihm geteilt, wie konntest du ihn nur sterben lassen?«
    Er hatte sie zu Boden geschleudert, wohl wissend, dass es keine wirkliche Antwort darauf gab. Sie verteidigte sich nicht, weil sie meinte, es stehe ihr nicht zu. Er hatte diese Schuld gespürt, es war ihm an dem Ausdruck von Abscheu in seinem Gesicht abzulesen.
    Mystique berührte ihren Hals, wo die Blutergüsse von seinen Fingerabdrücken jetzt, zwei Tage später, verblassten. Seither hatte sie die anderen gemieden. Sie trauerte allein um einen Mann, den sie kaum gekannt hatte und den sie durch die große Liebe von sechs anderen Männern, die sich ohne ihn quälten, doch genau kannte. Also stand sie im kalten Wind, und es war unwahrscheinlich, dass jemand sie fand oder sich zu ihr gesellte. Der Himmel war verhangen, der Geruch nach dem ersten Schnee wurde stärker, während die Temperaturen fielen. Sie hatte etwas Neues über sich erfahren, dachte sie mit freudlosem Lachen. Die Kälte schien ihr nicht viel auszumachen. Es war fast so, als wäre sie an die extreme Temperatur gewöhnt. Seltsamerweise gab ihr das noch mehr das Gefühl, eine Fremde an diesem Ort zu sein, wo Wärme so begehrt war.
    Reule beobachtete Mystique von der nächsten Ecke aus. Sie lehnte im Wind, eine Träne lief ihr über das Gesicht, die von dem kalten Wind rasch getrocknet wurde und die ihre Wange noch röter machte, als sie sowieso schon war. Es war eine neue Erfahrung, sie heimlich beobachten zu können. Er war schon gut zwanzig Minuten da, lange genug, um zu wissen, dass sie sich kaum rührte, sondern dass sie einfach auf die Stadt starrte, während sie nachdachte und fühlte.
    Er ließ ihre Gedanken in Ruhe. Die Empathie einer Stadt in Trauer war ohnehin schon intensiv genug, da musste er nicht noch schmerzerfüllte Monologe hören. Er spürte, dass ihre Traurigkeit tief ging, doch ihr Gefühl der Einsamkeit überraschte ihn. Da war eine Burg … eine

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