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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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Weile durch seinen Körper geflossen, bevor Reule und Delano herausgefunden hatten, wie sie ihn aus der Falle befreien konnten. Sie konnten seinen Verstand nicht mehr spüren, und sie hatten Angst, gleich zwei Rudelmitglieder kurz hintereinander zu verlieren. Allein die psychischen Auswirkungen wären verheerend. Doch Reule war nicht in der Situation, über die Auswirkungen auf ihn selbst nachzudenken. Als Rudelanführer konnte er sich diesen Luxus nicht leisten.
    Reule setzte sie neben Rye ab. Sie ging in die Hocke und streckte die Hand nach ihm aus. Kurz bevor sie ihn berührte, hielt sie einen Moment inne. Reule musste kein Telepath sein, um ihre Gedanken zu lesen. Sie versuchte sich damit abzufinden, dass es keine Hoffnung mehr für Amando gab, wenn sie sich darauf einließ, Rye zu heilen. Reule wusste bereits, dass es keine Hoffnung mehr gab. Amando würde wirklich sterben. Sein Tod würde das ganze Rudel treffen, einschließlich Rye, der in seinem Zustand diese Verheerung vielleicht nicht überleben würde. Reule wollte sie gern zur Eile antreiben, aber er hatte schon zu viel Druck auf sie ausgeübt. Sie war müde und fühlte sich krank, und es würde nichts bringen, sie zu drängen.
    Sie holte tief Atem und legte die Hände auf Ryes breiten Brustkorb. Als Erstes kümmerte sie sich um Herz und Lunge, nachdem sie wusste, was ein elektrischer Schlag an beiden Organen anrichten konnte. Sein Herz schlug unregelmäßig, seine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit. Sein getrübter Verstand konnte das Problem nicht lösen. In gewisser Weise war die Elektrizität noch in ihm.
    Sie brachte sein Herz dazu, in den langsamen und gleichmäßigen Rhythmus einzustimmen, den ihres hatte. Sie war kleiner, doch er war insgesamt gesünder als sie, sodass es sich wieder ausglich. Sie sog die Flüssigkeit aus seinen Lungen und hustete, als ihre bereits vom Rauch empfindliche Brust die Schädigung übernahm.
    Reule stand reglos über sie gebeugt, wie auch das restliche Rudel. In dem dunklen Wald herrschte eine Stille, als wären sie in einer Art Gottesdienst. Rye wurde zum Zentrum von Mystiques Existenz. Bilder seines Körperbaus zeigten sich in schimmernden Farben und Details. Sie war erstaunt, wie viel sie über die einzelnen Strukturen erfuhr, deren empfindliches Gleichgewicht so entscheidend war für das Wunder des Lebens. Ihre Hände glitten über den verbrannten männlichen Körper, wobei sie ihn in einen tiefen Schlaf versetzte, weil sie niemanden mehr brauchte, der den Schmerz von ihr ablenkte. Sie war stolz. Diese Entwicklung war es wirklich wert.
    Um die äußerlichen Verbrennungen kümmerte sie sich nicht mehr, teilweise vor Erschöpfung und auch weil Reule sie wegzerrte und die Heilung für beendet erklärte. Sie murmelte noch ein paar Anweisungen, wie die Wunden versorgt werden sollten, und schlief dann ein.
    Sie spürte nicht, wie Amando kurz darauf das Rudel endgültig verließ.

10
    Mystique stand da, das Gesicht im Wind, und zog ihren Umhang fester um sich in der beißenden Kälte. Sie blickte von den höchsten Zinnen der Burg auf Jeth City hinab.
    Selbst aus der großen Höhe konnte sie die einfachen grauen und dunklen Häuser und Gebäude erkennen und die roten Sprenkel, die sie jetzt schmückten, anders als noch vor drei Tagen. Rote Trauerflaggen hingen überall. Das Wappen der Stadt auf schwarzem Grund wurde aus Respekt vor dem Tod eines Mitglieds des verehrten Rudels gezeigt.
    Bei dem Gedanken an Amando zog sich ihr die Brust zusammen, und heiße Tränen schossen ihr in die geröteten Augen. Doch sie betrachtete die Trauer der Stadt lieber aus der Ferne, als im Turm zu sein, wo der Verlust so deutlich zu spüren war. Es war, als wäre jedem Rudelmitglied ein Messer in den Bauch gestoßen worden, wie eine langsam blutende Wunde, die sie unter unvorstellbaren Schmerzen tötete. Sie gingen umher, redeten, atmeten, doch der Mut hatte sie verlassen.
    Nie hätte sie so einen Gewaltausbruch erwartet.
    Nicht gegeneinander, sondern gegen sich selbst. Seit drei Tagen war es immer das Gleiche. Auf dem Übungsplatz, in der Kapelle, in der Wildnis – immer wenn sie einen Moment ungestört waren, bestraften sie sich selbst aus Verzweiflung über den Verlust. Es hatte etwas Rituelles, der Dolch, der sich gegen den eigenen Körper richtete, um sich am Arm, an der Brust oder am Oberschenkel so schwer wie möglich zu verletzen. Schlimmer noch, keiner von ihnen erlaubte es ihr, ihn danach zu heilen. Weil sie auf Verletzungen

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