Gabe des Blutes
ist, würde ich dich gern eine Weile im Arm halten.«
Als Antwort schlang sie die Arme so fest um ihn, wie sie nur konnte, und suchte nach seiner Wärme unter seinem Umhang. Sie stieß ein erleichtertes Schluchzen aus, und plötzlich wurde ihm klar, dass sie seine Distanziertheit als Zurückweisung und vielleicht sogar als Vorwurf verstanden hatte. Er hielt sie einen Moment lang an sich gedrückt und schloss fest die Augen gegen den eisigen Wind. Es war das zweite Mal, dass sie sein Verhalten ihr gegenüber als eine Art Bestrafung verstanden hatte. Für ihn sprach das Bände über ihre unbekannte Vergangenheit.
Er ging mit ihr nach drinnen und ließ es zu, dass sie sich fest an ihn klammerte. Wusste sie, wie gut sich ihre Nähe anfühlte? Er legte ihrer beider Mäntel und die anderen Überkleider weg und führte sie in ein kleines Arbeitszimmer. Im Kamin brannte ein munteres Feuer, und sie eilten darauf zu, obwohl der Raum elektrisch beheizt und warm war. Reule setzte sich in einen großen Sessel und zog sie am Handgelenk auf seinen Schoß. Seufzend schmiegte sie sich an ihn.
»Bei den Sánge gibt es eine Trauerzeit von zehn Tagen«, begann er leise. »Die ersten drei werden die Tiefen genannt. Das heißt, dass wir uns unserem Schmerz hingeben. Wir tun das«, er nahm ihre Hand und legte sie auf die Wunde über seinem Herz, »damit jedes Mal, wenn wir uns bewegen oder die Wunde berühren, der Schmerz eine Erinnerung an unseren Verlust und unsere Trauer auslöst. Je intensiver und zahlreicher die Verletzungen sind, desto öfter ehren wir denjenigen, der gestorben ist. Das ist eine sehr alte Tradition, doch sie hat sich so verändert, dass die Schnitte normalerweise nur noch oberflächlich sind und vor allem symbolischen Charakter haben. Doch Amando gehörte zum Rudel.«
Er sagte das so, als würden seine Worte alles erklären, und Mystique nahm an, dass es so war. Jetzt verstand sie, weshalb es ein Affront für ihn wäre, geheilt zu werden. Das Ritual selbst war ihr nicht wichtig, doch sie respektierte, was es für ihn bedeutete. »Die Tiefen enden am dritten Tag, also heute«, fuhr er fort, »und die Trauer des Lichts und der Dunkelheit wird mit der Zeremonie eingeleitet. Heute Abend werden wir Amando in der königlichen Krypta zur letzten Ruhe betten und das Leben ehren, das er als Rudelmitglied geführt hat.«
»Trauer des Lichts und der Dunkelheit?«
»Das bedeutet, wir lachen und weinen, während wir uns gemeinsam an ihn erinnern. Wir feiern und trauern gemeinsam. Die ersten Tage sind einsam, doch diese sieben Tage werden in enger Verbindung mit der Familie und den Freunden verbracht, die Amando zu Lebzeiten beeinflusst haben.« Er legte einen Finger auf ihre vom Wind kalte Wange. »Die Tiefen sind eine sehr dunkle und schmerzerfüllte Zeit. Verstehst du? Es wäre ein Mangel an Respekt, die Trauer der anderen durch unangemessene Gefühle zu stören. Das gilt umso mehr für das Rudel, weil unsere Gefühle so miteinander verwoben sind. Das Rudel fühlt, was ich fühle, Kébé , gerade jetzt. Sie erwarten von mir, dass ich mit ihrer Trauer zurechtkomme.«
Er zog sie fester an sich, die Lippen an ihrem Ohr. »Wegen der Gefühle, die es in mir auslöst, konnte ich deinen Trost nicht annehmen und dein Mitgefühl nicht ertragen, Liebling. Diese Gefühle hätten die Trauer der anderen gestört. Außerdem hätte ich mich mit dem Trost deiner Worte und deines Herzens nicht begnügt.« Er ließ die Fingerspitzen über ihren schmalen Hals gleiten. »Ich hätte alles haben müssen, Mystique. Doch mein wahnsinniges Verlangen nach dir wäre eine Beleidigung für das Rudel gewesen. Und ich glaube, für dich ebenfalls. Du hättest mich unter solchen Umständen nicht als Liebhaber kennenlernen wollen.«
»Und jetzt ist es anders?«
»Jetzt ist es anders«, bestätigte er. »Der Abend bricht an, und bald werden wir die Tiefen wieder verlassen. Es wird …«
Er hielt inne, und weil sie auf seinem Schoß saß, spürte sie die plötzliche Anspannung seiner Muskeln. Seine Oberschenkel unter ihrem Hintern wurden so hart, dass sie hin und her rutschte. Als er ihre Schulter umklammerte, hörte sie auf damit, und er drehte sie zu sich herum, während er mit der Hand zu ihrem Kinn fuhr und es anhob. Sie entdeckte den grüngelben Schimmer in seinen Augen, bevor sie den Kopf in den Nacken legen musste, sodass er ihre Kehle sehen konnte.
»Wer hat das getan?«, fragte er mit bedrohlich knurrender Stimme, sodass ihr Herz einen Sprung
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