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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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ganze Stadt voller Wesen, die genauso empfanden wie sie. Der spürbare Gleichklang der Sánge-Trauer spendete ihm eine Art Trost, und er konnte nicht verstehen, warum das bei ihr nicht auch so war. Sie war verwirrt und wütend, und er wusste, dass es ihr schwerfiel, die Trauerrituale der Sánge zu verstehen. Sie hatte so vieles ohne Weiteres akzeptiert, doch mit dieser Besonderheit hatte sie ihre liebe Not.
    Er hatte sie aufgesucht, um ihr zu sagen, dass es am Abend eine Zeremonie geben würde. Nach Amandos Tod fielen die Rechte an dessen Leichnam an seine Blutsverwandten zurück. Es lag im Ermessen der Mutter, des Vaters oder der Geschwister, in welcher Form man ihm die letzte Ehre erweisen sollte. Es war eine große Ehre für Reule, dass Amandos Familie ihm als Rudelführer diese Rechte übertragen hatte. Das hieß, sie wünschten, dass man Amando in einer großen Zeremonie die letzte Ehre erweise, und nicht nur im Kreise der Familie.
    Reule würde sie nicht enttäuschen. Heute Abend würden die sieben feierlichen Tage des Lichts und der Dunkelheit beginnen, und es würde mit allem Pomp und den entsprechenden Ritualen getrauert. Er wusste, dass Mystique gern dabei sein würde, und er hoffte, dass die Zeremonie ihr helfen würde, zu verstehen, dass bei den Sánge niemand wirklich allein trauerte.
    Er blickte hinauf zum grauen Himmel, spürte den aufkommenden Sturm in den Knochen und fand es beinahe poetisch. Der Schnee kam immer, wenn Amando die letzte Handelsreise des Jahres beendet hatte. Es war irgendwie passend, dass er so früh gekommen war und damit die letzte Heimkehr des ersten Gesandten markierte.
    Reule ließ die Trauer zu, presste die Hand auf die Stelle über dem Herzen, wo sich der tiefste Stich seines rituellen Dolchs befand und er sich Muskeln und Sehnen verletzt hatte, was ein Echo des Schmerzes hervorrief, den er nicht spüren konnte.
    So wurde sie schließlich auf seine Anwesenheit aufmerksam. Sie war extrem empfänglich geworden für körperliche Schmerzen, wie er feststellte, während sie den Kopf umwandte und ihn anblickte, wobei ihre Haare im Wind flatterten und ihr ins Gesicht und gegen den Hals peitschten, bevor sie sie mit der Hand zurückstreichen konnte. Die Art, wie sie ihn stumm und verunsichert anblickte, schnürte ihm die Kehle zu, weil sie auf einmal so zerbrechlich wirkte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und legte seine großen Hände um ihr kleines kaltes Gesicht. Es war das erste Mal seit drei Tagen, dass er sie berührte, und als es ihnen bewusst wurde, traf es sie beide tief in der Seele. Es beschämte ihn, wie sein ganzer Körper vor Erleichterung über die lang ersehnte Berührung zu erschauern schien. Sie umfasste seine Handgelenke und hielt ihn so fest, als hätte sie Angst, er könnte fliehen.
    »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass es heute Abend eine Zeremonie geben wird«, sagte er mit belegter Stimme.
    Sie blinzelte und bedachte ihn schließlich mit einem seltsamen kleinen Lächeln. »Nein, das stimmt nicht«, berichtigte sie ihn. »Es ist nicht zu übersehen, dass es heute Abend eine Zeremonie geben wird. Also bist du aus einem anderen Grund hier.«
    Er dachte einen Augenblick darüber nach und sah ein, dass sie recht hatte. Die Zeremonie war ein Vorwand gewesen, um sich ihr zu nähern, um die Distanz zu überwinden, die zwischen ihnen entstanden war.
    »Ich wollte mich nicht gut fühlen«, stammelte er, und sie runzelte die Stirn angesichts des zögerlich formulierten Gedankens. »Ich will, dass du das verstehst, Mystique. Dich zu berühren, wenn auch nur auf diese harmlose Weise …«, er zog sie näher heran, küsste sie auf die Stirn und atmete den kalten, klaren Duft ihres Haars ein, »ist für mich so schön, ein so großartiges Gefühl, und ich will das nicht fühlen.« Er sah, wie der Schmerz ihrer Einsamkeit ihr Tränen in die rot geränderten Augen trieb. Er spürte einen Stich, der ihn wie als Antwort durchfuhr. »Er gehörte zum Rudel, Kébé «, sagte er heiser. »Ich kann nicht richtig erklären, was das bedeutet, was für ein Gefühl es ist, dass er nicht mehr unter uns ist, aber ich kann versuchen, unsere Trauerrituale zu erklären.«
    »Bitte«, bettelte sie, »Para ist zu aufgelöst, um überhaupt zu sprechen, und ich hatte sonst niemanden, den ich hätte fragen können. Ich weiß nicht viel darüber.«
    »Es tut mir leid. Ich hätte es wissen müssen. Können wir irgendwohin gehen, wo es wärmer ist? Wir können reden, und, wenn das in Ordnung

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