Gabriel - Duell der Engel
geschlossen, dass er mich in Ruhe lässt, solange ich seinen Unterricht nicht störe. Sicher, ich kriege dafür gerade mal drei Punkte, aber Physik wähle ich nächstes Jahr sowieso ab. Mathe darf ich ja leider nicht. Und Udoriwitsch scheint irgendwie dem Irrglauben verfallen zu sein, er würde mich mit über zehn Punkten durchs Abi kriegen. Ich bin Realist genug, um ihn wegen seiner lächerlichen Fehleinschätzung auslachen zu können.
Vorsichtig, gerade so, dass es noch nicht zu auffällig war, begann ich, mich in meinen Stuhl zurückzuziehen. Wurde kleiner und kleiner, verschmolz langsam mit dem braunen Plastik und hoffte, so dem verhassten Unterricht nur für eine kurze Zeit entgehen zu können. Weit gefehlt.
»Gabriel!«
Oh nein. Mein Herz verkroch sich mal wieder Richtung Magen. Es schien sich dort eingemietet zu haben.
»Was hast du denn für einen Hochpunkt raus?«
Wo ist nur Harrys Tarnmantel, wenn man ihn braucht? Hilfe suchend blickte ich zu Sonja. Udoriwitsch hatte uns auseinandergesetzt, weil er meinte, »wir täten uns nicht gut«. Tatsächlich aber war sie meine einzige Stütze. Denn jetzt wusste ich gar nichts. Und sie konnte mir nicht helfen. Ihr Mund formte wohl irgendeine Zahl, aber ich verstand sie nicht. Mann, ich sollte echt mal Lippenlesen lernen â¦
»Na, wirdâs bald?!«
»Ich ⦠äh â¦Â« Bildete ich mir das nur ein, oder war tatsächlich die gesamte Klasse verstummt? Ganz plötzlich. Kaum merklich.
»Also, ich â¦Â« Hilfe. Verdammt, der wusste doch genau, dass ich nichts raushatte. Warum nur musste er auch noch darauf herumreiten? Scheià Sadist.
Udoriwitsch runzelte genüsslich die Augenbrauen. Ich hasse diese Momente. Und leider entstehen sie viel zu oft. 11:34 Uhr. Noch 71 Minuten. Ich brauchte ein Wunder. Sofort.
»Gehe ich recht in der Annahme â¦Â«, begann Udoriwitsch hämisch und wurde jäh unterbrochen. Von einem Klopfen an der Tür. Irritiert hob er die rechte Augenbraue. Ich selbst sah wohl noch verblüffter aus als er. War das mein Wunder?
»Herein!« Die Stimme meines Mathelehrers zerschnitt die Luft in der Klasse wie ein frisch geschliffenes Samuraischwert ein Blatt Papier. Dabei sank die gefühlte Temperatur um circa 20° C.
Wer auch immer gleich hereintreten würde, wir alle bemitleideten ihn. Für gewöhnlich traute sich niemand, Udoriwitschs Foltermethoden zu unterbrechen.
Knarrend schwang die Tür auf, gemächlich. Die übersteigerte Dramatik war beinahe ulkig. Wäre mein Herz inzwischen wieder an seinem rechten Platz gewesen, hätte ich vielleicht lachen müssen. So aber konnte ich nur trocken schlucken und abwarten.
In der Tür stand ein Junge. Kaugummi kauend. Schwarze, fransige Haare. Schwarze Klamotten. Keine Schultasche. Klein. Blass, mit dunklen Ringen unter den komisch wachen Augen. Und einem schiefen, unheimlichen Grinsen.
In der Klasse hatte sich eine merkwürdige Stille breitgemacht. Mein Herz pochte viel zu laut. Die Zeit schien stillzustehen. Man konnte förmlich sehen, wie sich Udoriwitschs Aufmerksamkeit von mir auf den Jungen übertrug. Ãhnlich dem Auge Saurons, dessen Strahl durch die Gefährten von Frodo und Sam abgelenkt wird. Nur dass der Junge nicht mein Gefährte war. Während Udoriwitschs Blick in aller Ruhe an unserem Neuankömmling hinunterglitt, lehnte sich dieser vollkommen gelassen an den Türrahmen. Sein Kaugummikauen wurde noch extremer. Provokanter.
»Ich bin Seraphin«, meinte er schlieÃlich. Seine Stimme klang gelangweilt und heiser. Irgendwie unwirklich. Wie schwarzer Schornsteinrauch.
»Kaugummi raus!«, bellte Udoriwitsch nur.
Betont lässig schlenderte Seraphin zum Mülleimer und lieà den Kaugummi hineinfallen. Dann drehte er sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr in seinem gelangweilten Tonfall fort: »Bin hier der Neue. Wo soll ich mich hinsetzen?«
»Von wegen hinsetzen! Hinstellen! Und zwar an die Tafel. Kurvendiskussion. Exponentialfunktionen. Sagt dir das was? Nein? Egal, du wirst es lernen! An die Tafel!«
Udoriwitsch hatte ein neues Opfer gefunden. Ich hasste mich für die feige Erleichterung, die ich empfand, bevor ich merkte, wie sie in Schadenfreude umschlug. Aber irgendetwas stimmte nicht mit Seraphin. Er löste jede von Udoriwitschs Aufgaben ohne Probleme. Erklärte, er habe das alles schon mal gehabt. An
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