Gabriel
sich ihre Kehle staubtrocken an. Ihr Kopf schmerzte, ihre Arme und der Nacken spannten sich an.
Jetzt steckte ihr Auto unter einer Überführung fest. Der feuchte graue Zement war von mindestens zehn Gangs geschmückt worden. Während sie die Augen zusammenkniff und die Graffiti musterte, kam ein Mann hinter einem der Stützpfeiler hervor. Seine Schuhe waren löchrig, und er hielt einen Hut mit ein paar Münzen in der Hand. Automatisch kramte Juliette in ihrem Rucksack auf dem Beifahrersitz des Mietwagens. In einer der Außentaschen verwahrte sie immer ein bisschen Kleingeld. Sie tastete danach und schaute durch die Windschutzscheibe. Vorerst bewegte sich der Verkehr nicht weiter. Sobald sie die Münzen gefunden hatte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und rief nach dem Mann, der sie nicht zu hören schien. Es donnerte erneut.
Auf den dritten Ruf reagierte der Mann und sah sie an – strahlend blaue Augen in einem geröteten Gesicht. Sie winkte ihn zu sich, und er hinkte herbei. Als er das Geld entgegennahm, verzogen sich seine rissigen Lippen zu einem dankbaren Grinsen.
Hinter ihr hupte Mr. BMW wieder. Ihre Augen weiteten sich, sie hob den Kopf und schaute in den Rückspiegel. Durchdringend starrte er sie an. In ihren Ohren rauschte das Blut. Die Lider halb geschlossen, erwiderte sie seinen Blick. Normalerweise ließ sie sich nicht so leicht provozieren. Aber dieser Typ ging wirklich zu weit.
Und jetzt zeigte er ihr auch noch, auf britische Art, einen Vogel!
Plötzlich sprühten weiße Funken aus seiner Motorhaube, ein blendender Blitz schoss hindurch. Was nun geschah, beobachtete Juliette wie im Zeitlupentempo. Millionen winziger elektrischer Teilchen flogen empor und erinnerten sie an die Glaskugeln, innerhalb derer Blitze entstanden, die sich, wenn man das Glas berührte, auf die eigene Handfläche richteten.
Der ohrenbetäubende Lärm glich dem einer Bombendetonation und übertönte alles andere. Aber Juliette wusste, dass um sie herum auch Sirenen und Hupen schrillten und die Leute aus ihren Autos stiegen.
Für Juliette indes existierten nur die Zeitlupe und der Mann, der sein Handy nun tatsächlich nicht mehr loslassen konnte, da die Elektrizität des Blitzes durch den BMW schoss, ins Innere des Wagens. Die Brille des Fahrers wurde zerstört, seine Brauen versengt, seine Armbanduhr schmolz.
Das habe ich bewirkt, dachte sie plötzlich. Jetzt schrie Mr. BMW. Doch sie hörte es nicht, so klangen ihr die Ohren. Er umklammerte seinen Arm, tastete nach dem Türgriff, und sie konnte nur verstört zuschauen.
In der Tiefe ihrer Seele kannte sie die Wahrheit. Sie war so unleugbar wie die Tatsache, dass die Sonne jeden Tag im Osten aufging und dass man mit dem Gehirn dachte. Sie selbst hatte den Blitz in das Auto dieses Mannes gelenkt.
In gewissen Momenten eines Lebens scheint die Zeit stillzustehen. Denn wie alles andere ist auch die Zeit relativ. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Mr. BMW zur Besinnung kam und den geschmolzenen Türgriff umfasste, den Wagenschlag öffnete und heraustaumelte. Und es dauerte weitere Jahre, bis Juliette ihre Autotür aufstieß.
Von qualvollen Schuldgefühlen getrieben, stürmte sie durch das nachlassende Unwetter zu dem bewusstlosen Mann, sah ihre Finger an seinem Hals, die den Puls suchten. Stunden später – so kam es ihr zumindest vor – beugte sie sich zu ihm hinab und hoffte seinen Atem zu hören.
Ja, Gott sei Dank … Sie kauerte sich auf die Fersen und betrachtete die geschmolzene Armbanduhr, die Brandmale, die sie auf der Haut des Mannes hinterlassen hatte. Und dann, ohne zu überlegen, schloss sie die Augen und berührte seine Brust.
So etwas hatte sie auch in Australien getan. Doch sie fand keine Zeit, um über diesen Wahnsinn nachzudenken, ihr Körper agierte aus eigenem Antrieb.
Ringsum mischten sich gellende Stimmen, jemand schrie, man müsse einen Krankenwagen rufen, eine andere Person erwiderte, der würde niemals durch den Stau kommen. Es donnerte immer noch, aber nicht mehr so laut. Ganz in der Nähe knisterte ein Feuer, und Juliette registrierte, dass der BMW ausbrannte. Dieses Geräusch erfüllte sie mit einer beklemmenden Angst. Sie fürchtete sich nicht vor Flammen, wenn sie im Kamin eines gemütlichen Wohnzimmers loderten. Aber aus eigener Kraft entfacht, entwickelten sie eine unberechenbare Energie, die alles auf ihrem Weg verzehrte.
Da hörte sie Regen herabprasseln. Bald würde das Feuer erlöschen. Durchnässt und fröstelnd spürte
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