Gabriel
Verdacht laut ausgesprochen hatte, fand sie es auch immer glaubhafter, dass Gabriel ein Komplize ihres blonden Angreifers war. Gemeinsam hatten die beiden sie kidnappen wollen. Deshalb war Black gerade rechtzeitig in ihrem Hotelzimmer aufgetaucht, um sie zu ›retten‹.
Juliette misstraute ihm. Nichts an ihm erschien ihr vertrauenswürdig. Weder sein großer, starker Körper noch die durchdringenden silbernen Augen noch das attraktive Gesicht, die tiefe Stimme mit dem wohlklingenden Akzent, die ihr die Knie weich werden ließ, seine geschmeidigen Bewegungen, der betörende Duft, die verdammten, überwältigenden Küsse.
Diesen Küssen traute sie am allerwenigsten.
Mit zitternden Fingern berührte sie ihre Unterlippe. »Ich muss hier weg«, wisperte sie.
Als hätte der Zug sie gehört und würde ihr seine Hilfe anbieten, verlangsamte er sein Tempo und fuhr in die nächste Station ein. Juliette spähte in den Mittelgang. An beiden Enden waren die Türen geschlossen. Nur hinter einer entdeckte sie eine Bewegung, verschwommen und undeutlich: Aus dem benachbarten Wagen stiegen Fahrgäste aus.
Ohne noch länger zu überlegen, stand sie auf, zerrte ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz und stürmte in die Richtung, die Gabriel nicht eingeschlagen hatte. Die Tür öffnete sich, Juliette lief hindurch und sprang auf den Bahnsteig hinab.
Bis sie feststellte, wo sie sich befand, dauerte es eine Weile. In Schottland gab es nur wenige größere Städte, und dies war gewiss keine. Eher ein Dorf. Muir of Ord las sie auf einem Schild. Okay. Wo immer das sein mochte.
Immerhin wusste sie, dass der Ort zwischen Ullapool und Inverness liegen musste, also im Hochland. Aus dieser Gegend stammten ihre Vorfahren mütterlicherseits, die MacDonalds.
Und was jetzt? Juliettes Gedanken überschlugen sich. Sie brauchte ein Auto, eine Landkarte, und sie musste sich möglichst schnell vom Zug und seinen Fenstern entfernen. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße. Sie rannte um das rote Backsteingebäude des Bahnhofs herum. Später würde sie den Stationsvorsteher um Hilfe bitten. Aber jetzt würde sie sich erst einmal verstecken.
Dafür eignete sich die Damentoilette am besten. Dort wollte sie sich verbergen, bis der Zug weiterfuhr. Ein lausiger Plan. Aber leider fiel ihr kein anderer ein.
Wie Feuer brannte das Blut in Gabriels Adern. Noch nie hatten ihn solche Emotionen erfasst. Juliette brachte ihn völlig durcheinander. Während des atemberaubenden Kusses hatte er ihre Hingabe gespürt, und er wusste, er hätte sie gleich dort auf dem Sitz in dem Eisenbahnwagen nehmen können. Nicht, dass er es getan hätte. Oder vielleicht doch?
Aber dann hatte er etwas anderes gespürt. Eine Vibration in der Luft, eine Verdichtung der Atmosphäre, elektrisch geladen, negativ und falsch. Überall würde er dieses Flirren erkennen: Der Adarianer hielt sich in diesem Zug auf. Im selben Wagen wie Juliette. Unsichtbar lag er auf der Lauer, wie eine verborgene Schlange. Womöglich saß er ihr gar gegenüber und hatte sie schon die ganze Zeit beobachtet.
Gabriel fragte sich, warum ihm das nicht sofort aufgefallen war. Vermutlich, weil Juliette ihn unwiderstehlich in ihren Bann gezogen und alles andere aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Oder der Adarianer konnte sich so gut verstecken, dass Gabe ihn erst entdeckt hatte, als der Feind in seine unmittelbare Nähe gelangt war. Plötzlich hatte er offenbar eine Bewegung wahrgenommen, einen Luftzug, als der Adarianer durch den Mittelgang an ihm vorbeiging.
Aber worauf hatte der Mann gewartet? Wahrscheinlich hatte er Juliette nicht direkt angegriffen, weil es schwierig gewesen wäre, eine bewusstlose Frau unbemerkt aus dem Zug zu schaffen. Dann war Gabe aufgetaucht und hatte den Plan des Adarianers durchkreuzt. Während Gabriel und Juliette sich geküsst hatten, hatte der Schurke den Wagen verlassen.
Jetzt verkroch er sich irgendwo. Und Juliette saß allein in ihrem Großraumwagen. Gabriel war kein Idiot. Natürlich würde sie flüchten. Sobald er ihr genug Zeit ließ, würde sie zur Besinnung kommen und verständlicherweise Furcht verspüren. Sie hatte keinen Grund, an die Lauterkeit seiner Absichten zu glauben. Zweifellos traf ihre Vermutung zu, gewisse Männer würden die Frauen mit dem Trick, dass einer auf sie losging und der andere sie ›rettete‹ herumkriegen. Michael hatte während seiner Polizeiarbeit in New York oft genug solche Vergewaltigungsszenarios mitbekommen und im Lauf der Jahre
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