Gaelen Foley - Knight 02
großen Schrank, der in einer dunklen Ecke stand, und sah hinein. In der Stille knarrte die Tür unheimlich laut. In- nen entdeckte sie ein Kleidungsstück. Verwirrt griff sie nach der rauen braunen Wolle und fragte sich, was es wohl sein mochte. Wieder siegte die Neugierde. Sie zog das formlose Stück heraus und hielt es ins Licht.
Es war eine Art mittelalterliche Mönchskutte, allerdings neu und sauber, mit langen, weiten Ärmeln und einer großen Kapuze. Um die Taille wurde es mit einer Kordel zusammen- gehalten. Plötzlich hörte sie draußen Gelächter. Aha, dachte sie, sind doch nicht alle Gäste verschwunden. Sie machte die Tür einen Spaltbreit auf und lugte hinaus. Ein paar Gestal- ten in ebensolchen Kutten wie die, welche sie im Schrank ge- funden hatte, glitten vorüber. Als sie im dunklen Flur ver- schwunden waren, schloss sie die Tür und kaute nachdenk-
lich auf ihrer Unterlippe herum. Dafür also ist die Kutte da, überlegte sie. Anscheinend veranstaltete Lord Lucien eine Art Kostümball. Ein wenig mürrisch dachte sie, dass sie wie- der einmal verzichten musste, während Caro sich amüsierte. Sie zog das Reisekleid aus und schlüpfte in ihr bequemes Morgengewand. Dann löste sie ihr Haar und kämmte es. Ei- ne Zofe kam mit einem Tablett. Alice setzte sich und ließ sich Suppe und frisches Brot, Rinderfilet mit Pilzen und zum Nachtisch einen Aprikosenpudding munden, ebenso den hervorragenden Burgunder. Danach legte sie sich aufs Bett, um ein wenig zu ruhen, weil ihr vom Wein die Glieder ein wenig schwer geworden waren. Mit wachsender Ungeduld wartete sie darauf, dass Mr. Godfrey Caro zu ihr brachte.
Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen. Vielleicht hatte der Butler ihre Bitte vergessen oder zog es vor, ihr nicht nachzukommen. Alice kannte ihre Schwägerin. Wenn Caro auf einem Kostümball war, würde sie zu viel trinken und am nächsten Morgen einen schweren Kopf haben, und dann wä- re es ihnen nicht möglich, in aller Frühe aufzubrechen, was sie aber mussten, wenn sie es bis Einbruch der Dunkelheit nach Hampshire schaffen wollten. Nun, dachte sie entschlos- sen, wenn Lord Luciens Dienstboten Caro nicht holen, muss ich es eben selbst tun. Zwar war ihr klar, dass ihr einfaches Morgengewand und die offen herabwallenden Haare nicht der richtige Aufzug für eine Gesellschaft waren, aber sie hat- te ja die Kutte. Außerdem wollte sie nur rasch Caro suchen und dann gleich wieder verschwinden.
Kurz darauf schlüpfte sie aus dem Zimmer. Ihre blauen Augen leuchteten aus den Tiefen der braunen Kapuze hervor. Unerkannt stahl sie sich den Flur hinunter, in dieselbe Rich- tung, welche die anderen Gäste genommen hatten. Das Herz klopfte ihr vor Aufregung, denn das weitläufige Haus war fast ein wenig unheimlich.
Sie irrte durch die düsteren Flure, bis sie schließlich den Weg nach unten gefunden hatte. Der Marquis auf dem Ge- mälde über der Eichentreppe schien ihr zuzuzwinkern, wäh- rend sie nach unten schlich. Sie unterdrückte ein Kichern; sie konnte kaum fassen, was sie da tat. In der Eingangshalle stand ein Lakai, der sie aufmerksam beobachtete. Sie zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht.
„Die Grotte, Madam?“ erkundigte sich der Lakai höflich,
der sie nicht erkannte.
Sie nickte. Er deutete auf einen Flur zur Linken. An des- sen Ende wartete schon der nächste Lakai, der ihr wiederum den Weg zeigte. Der dritte Lakai öffnete eine Tür und wies in die Dunkelheit.
„Hier entlang, Madam.“
Nervös näherte Alice sich der pechschwarzen Öffnung und sah den Lakaien zweifelnd an, doch der lächelte nur höflich. Alice schaute hinein.
Eine schmale Treppe führte in den Keller von Revell Court. Fernes Gelächter schallte von unten herauf, und daran er- kannte sie, dass dieser Weg tatsächlich in die Grotte führte. Liebe Güte, das wurde immer merkwürdiger. Eine leise inne- re Stimme riet ihr umzukehren, aber sie war entschlossen, Caro zu finden. Sie wappnete sich und überquerte die Schwelle.
Feuchtkühle Luft schlug ihr entgegen. Alice klammerte sich am Treppengeländer fest und stieg hinab in die Finster- nis. Nach ein paar Schritten wurde sie sich eines leisen Rau- schens bewusst. Das Geräusch kam ihr bekannt vor, aber sie konnte es nicht einordnen. Als sie den festgestampften Lehmboden erreichte, war von den lachenden Menschen, de- nen sie gefolgt war, nichts mehr zu hören. Ein weiterer Lakai stand am Höhleneingang, verbeugte sich vor ihr und zeigte in die gähnende
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