Gaelen Foley - Knight 02
Lügen“, sagte er zynisch. „Zweifellos wird er Sie zu schätzen wissen.“
Schockiert starrte Alice ihn an. „Wer?“
„Na wer wohl, meine Liebe. Lord Luzifer natürlich.“
Sie schluckte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als der Fährmann die Gondel an einer sanft ansteigenden Lande- stelle zum Halten brachte. Das Boot zu verlassen schien ihr reichlich unvorsichtig, doch die anderen Passagiere spran- gen in bester Laune aus der Gondel und stiegen die in den Kalkstein gehauenen flachen Stufen empor.
„Kommen Sie, meine Kleine. Trödeln Sie nicht herum!“ Orpheus packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich mit. Als sie die Spitzbogentür oben an der Treppe erreichten, verzog sie angewidert das Gesicht – das Schnitzwerk stellte
den griechischen Fruchtbarkeitsgott Priapus dar, eine gnomartige grinsende Gestalt, die nichts trug außer einem mächtigen Gemächt. Außerdem legte Priapus den Finger auf die Lippen, wie um die, die diese Tür durchschritten, zur Verschwiegenheit zu ermahnen.
„Sieht mir ziemlich ähnlich, was?“ fragte Orpheus ki- chernd. Dann ging die Tür auf.
Aus der Grotte dahinter drangen Geräusche, Musik und Stimmengewirr. Die Musik verwirrte Alice – es war eine Mi- schung aus gregorianischen Gesängen und Kriegsgetrom- mel, akzentuiert vom Schlag der Becken und brummenden orientalischen Instrumenten. Weihrauch wehte ihnen in di- cken Schwaden entgegen.
„Kommen Sie, Kleine“, meinte Orpheus leutselig.
Alice wusste, dass es dumm wäre, ihm in die Dunkelheit zu folgen. Sie witterte Gefahr, doch da sie ihre Schwägerin ir- gendwo da drinnen vermutete, musste sie einfach hineinge- hen. In welche Klemme Caro auch geraten war, Alice war klar, dass es wie immer an ihr hängen blieb, sie daraus zu be- freien. Das Gesicht tief im Schatten der Kapuze haltend, nahm sie allen Mut zusammen und folgte dem dicken Ame- rikaner durch die Spitzbogentür.
Der Anblick, der sich Alice innen bot, ließ sie erstarren. Sie konnte nur verstört und entsetzt um sich schauen. Niemals sollte sie diesen Augenblick vergessen, der ihr Leben in zwei Hälften teilte: ihre naive Existenz vor Revell Court und die Zeit danach, als sich ihr eine neue Welt, eine Welt voller Ge- heimnisse eröffnete.
Luciens Welt.
Der Geruch von Weihrauch stach ihr in die Nase. Zwischen den tropfenden Stalaktiten brannten überall Kerzen. Sie kämpfte gegen den Schock an, als sie die groteske, orgiasti- sche Szene in sich aufnahm, die sich in der weitläufigen Höhle entfaltete, fast wie ein zum Leben erwachtes Gemäl- de von Hieronymus Bosch. Die hypnotische Musik betäubte sie, stumpfte ihre Sinne ab, schläferte sie ein.
Eines zumindest erkannte sie: Ein Kostümball war das nicht.
„Kommen Sie“, sagte Orpheus eifrig und ging vor ihr die Stufen hinunter, die in die riesige unterirdische Höhle führ- ten. Überall drängten sich Gestalten in Kutten, die alle, wie
in Anbetung, auf das in den Kalkstein gehauene Abbild ei- nes mit Fängen bewehrten Drachens blickten. Jede Schuppe war fein gemeißelt, in den Augenhöhlen glommen rot glü- hende Kohlebecken. Allein das aufgerissene Maul war mannshoch, und aus dem schwarzen Schlund sprudelte eine heiße Quelle in die Höhle. Der natürlich aufsteigende Dampf kräuselte sich aus den Nasenlöchern des Ungetüms, als woll- te es jeden Augenblick Feuer speien. Das Wasser wurde über eine flache, vier Fuß breite Rinne in ein Becken geleitet, das an die römischen Bäder in Bath erinnerte. Das Becken war mit Mosaiken verziert, und ringsum standen korinthische Säulen, die noch von den alten Römern stammen mochten. Nie zuvor hatte Alice so viel nackte Haut gesehen. Viel- leicht lag es an ihrer Begeisterung für die Kunst, vor allem das Porträt, aber sie war überrascht, wie rasch Schock und moralische Entrüstung künstlerischem Interesse wichen. Auch wenn viele Leute nackt im Wasser herumtollten, war die Mehrheit doch angekleidet, das Gesicht im Schatten der Kapuzen verborgen, und manche trugen, um ihre Anonymi- tät zu wahren, zusätzlich Masken. Alle waren sie jedoch voll- kommen in Bann geschlagen von dem Drama, das sich ihnen auf der in den Rücken des Drachens gehauenen bühnenarti- gen Plattform darbot. Die Bühne wurde von einem Steinal- tar beherrscht, an dem ein bleicher, schlaksiger junger Mann in fließenden Priestergewändern stand. Die Hände seitlich erhoben, sang er mit durchdringender Stimme in irgendeiner unbekannten – möglicherweise frei erfundenen –
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