Gaelen Foley - Knight 02
mich heute Abend einen sehr geschäfti- gen Eindruck“, meinte er schleppend. „Sie halten die Ohren offen?“
„Ich komme doch nur wegen der Weiber, alter Freund“, antwortete er mit einem harmlosen Kichern. „Ihre Gesell- schaften sind der einzige Ort, wo ich eine umsonst abschlep- pen kann.“
Lucien lachte und ging weiter. „Na dann halali, Orpheus.“
„Gleichfalls.“ Rollo blickte ihm nach.
Erleichtert stieß er die Luft aus – er kam sich vor wie ein Spaziergänger, der soeben von einem Wolf beschnuppert worden und wie durch ein Wunder ungeschoren davonge- kommen war. Nachdem er seine Aufgabe erledigt hatte, stürzte Rollo ein Glas Wein hinunter und sah sich nach ei- ner Frau um, die betrunken genug war, um sich mit ihm zu vergnügen.
Tief in der Nacht räumten Luciens Männer die letzten Gäs- te aus der Grotte. Sie hoben Betrunkene auf, die an Ort und Stelle liegen geblieben waren, und trugen sie in ihre Zim- mer, während Lucien sich im Beobachtungsstand mit seinen jungen Assistenten und den Huren traf. Sie tranken Kaffee, lümmelten sich auf Sofa und Stühlen herum und tauschten die Informationen aus, die sie des Nachts gesammelt hatten. Lucien lehnte neben dem roten Drachenaugenfenster, die Arme vor der Brust verschränkt, und hörte sich die Berich- te der Reihe nach an, aber es fiel ihm schwer, sich zu kon- zentrieren, weil seine Gedanken immer wieder voll Begeh- ren und Zorn zurück zu Alice Montague wanderten.
Wie konnte sie es nur wagen, seinen Kuss abzuwischen? Was bildete sie sich ein? Und warum, um Himmels willen, konnte er sie einfach nicht vergessen? Es war absurd. Er, Lucien Knight, schien vollkommen verrückt nach einer reh- äugigen kleinen Jungfer zu sein. Das Mädchen war ein Aus- bund an Tugend. Kein Wunder, dass sie Caro mit ihrer Prü- derie wahnsinnig machte. Ihre herablassenden Worte ärger- ten ihn immer noch. Die Liebe verändert die Menschen. Lie-
be, dachte er mit einem verächtlichen Schnauben. Und doch, so unvernünftig es auch war: Irgendwie beunruhigte Alice Montague ihn, machte ihm fast ein wenig Angst. Ihr klarer Blick, ihre offen gezeigten Gefühle erschütterten sei- ne zynische Natur. Sie war auf eine Weise echt, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Gefährlich ist sie, das ist es, überlegte er. Sie bedrohte sei- ne schwer gewonnene Kenntnis der Welt in all ihrer Grau- samkeit. Das Leben hatte ihm sämtliche Ideale und Illusio- nen geraubt – und doch hätte er alles gegeben, wenn er je- manden fände, der ihm den Glauben daran zurückgäbe.
Aber ist sie denn wirklich derart tugendsam, fragte er sich. Ist das überhaupt irgendwer? Das Mädchen hatte ihn getroffen, und er war versucht, es ihr heimzuzahlen, indem er ihr bewies, dass sie gar nicht das Tugendlamm war, für das sie sich zu halten schien. Er wollte sie nicht verletzen, aber er hätte nichts dagegen gehabt, ihr einen Schrecken einzujagen, um es ihr zu zeigen – um ihr zu zeigen, dass Miss Tugendsam ebenso fehlbar war wie jeder andere auch. Ihre Reinheit bereitete ihm Kopfzerbrechen, doch es war eben viel leichter, sie ein wenig von ihrem Thron zu stoßen, als den – vergeblichen – Versuch zu unternehmen, in denselben erhabenen Gefilden zu wandeln wie sie.
Da kam ihm ein beunruhigender Gedanke: Was, wenn er sie prüfte und sie nicht versagte? Wenn sie bewies, dass er im Unrecht war?
Gelächter riss ihn aus seinen brütenden Gedanken, und dann reichte Marc ihm eine Liste mit all den Agenten, die sich in dieser Nacht die Ehre gegeben hatten. Englands Ver- bündete waren zahlreich vertreten gewesen – unter anderem Russland, Österreich, Preußen und Portugal. Geistesabwe- send studierte Lucien die Liste und verdrängte Alice Mon- tague dann entschlossen aus seinen Gedanken.
Einfach ausgedrückt, handelte es sich beim „Drachenor- den“ um ein Werkzeug der Gegenspionage, das in der Zeit von Königin Elizabeth und ihrem finsteren Meisterintrigan- ten Walsingham entstanden war. Letzterer war eine Art Ur- vater der englischen Spionage gewesen und außerdem ein enger Freund des ersten Marquis of Carnarthen. Die Kutten und der ganze mystische Schnickschnack waren Teil der uralten Verbindung von Spionage und Okkultem. Der über-
sinnliche Unsinn zog Rebellen, Abenteurer und Unzufriede- ne an, und diese Leute wiederum lockten die Spione an. Kluge Agenten suchten sich ihre Verbündete unter den Au- ßenseitern und den Unzufriedenen, oft ahnungslose Leute, um sie in ihren
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