Gaelen Foley - Knight 05 - Rache im Blut

vorgestellt werden.
    Bei all den Vorteilen, die Sorscha haben würde, musste Mary die Kraft aufbringen, das zu tun, was sie tun musste. Sie war nach England zurückgekehrt, um das lange Zeit ver- schollene Kind dem älteren Bruder und Vormund zurückzu- bringen, Lord Strathmore.
    Mary hoffte sehr, dass die Wiedervereinigung der Geschwis- ter Sorschas Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde, denn das Mädchen konnte sich an ihr früheres Leben und ihre Familie nicht erinnern, und auch von dem Feuer wusste sie nichts mehr. Mary war dankbar dafür. Sie selbst erinnerte sich mit Entsetzen noch an jede Einzelheit.
    Mary malte sich eine schöne Zukunft für Sorscha aus und schaffte es dadurch, ein wenig Ruhe zu finden, bis Doyles Klopfen sie daran erinnerte, dass es Zeit war.
    Mary war sofort hellwach. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt breit, weil sie ihren Schleier noch nicht trug, und sag- te Doyle, dass sie gleich kommen würde. Bald darauf kam sie die Treppe hinunter zur Kutsche und hüllte sich dabei gegen die Kälte der Nacht eng in ihren schwarzen Wollman- tel. Draußen war alles ruhig, und Doyle wartete geduldig im Licht einer Straßenlaterne. Glänzend lag das Mondlicht auf dem Kutschendach.
    „Portman Square“, wies Mary ihn an, als Doyle ihr in die Kutsche half.
    „Aye, Mylady.“
    Marys Herz klopfte vor Aufregung, als sie losfuhren und sich nach Nordwesten zum vornehmsten Stadtviertel Lon-

dons begaben.
    Was war er wohl für ein Mann? Ob er Sorscha ähnlich sah? Würde man erkennen, dass sie beide aus einer Familie stamm- ten?
    Mary hatte nie aufgehört, die Nachrichten aus London zu verfolgen, auch wenn die Times einen Monat bis zu dem klei- nen Häuschen in Irland brauchte, das in den smaragdgrünen Hügeln von Tipparary verborgen lag. Als sie eines Tages zy- nisch die Klatschseiten nach einer Nachricht über die Schuf- te, die ihr das angetan hatten, überflogen hatte, war sie auf einen kleinen Absatz gestoßen, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte:
    Nach einigen Jahren auf Reisen durch die ganze Welt auf seinem Schiff „Katie Rose“ ist Lord Strathmore wie- der nach England zurückgekehrt. Zuletzt war er in In- dien und dem Dschungel Malaysias. Lord Strathmore erklärte, dass seine Reisen halb Ferien und halb wissen- schaftliches Experiment waren. Wir freuen uns, vermel- den zu können, dass der attraktive Lord keine Pläne für weitere Reisen hat, sondern sich in England niederlassen will. In dieser Saison wird sich die Gesellschaft fragen, ob der edle Kapitän der „Katie Rose“ sich nicht auf ein ganz neues Abenteuer einlassen will – auf das der Ehe vielleicht?
    Mary hatte sofort gewusst, was sie tun musste, sobald sie die Zeilen gelesen hatte, auch wenn sie die Vorstellung kaum er- tragen konnte. Sie musste Lord Strathmore so viel über jene furchtbare Nacht erzählen, vor allem, was seinen Eltern zu- gestoßen war, aber würde er bereit sein, sie anzuhören? Wür- de er vor dem zurückschrecken, was getan werden musste, um Sorschas Sicherheit zu garantieren und sie vor denen zu schützen, die ihr Leid antun wollten?
    Würde er ihre verwirrende Geschichte überhaupt glauben? Mary sah grübelnd zum Mond auf, dessen rundes Gesicht sie an ihr eigenes erinnerte: die eine Seite hell und schön, die an- dere durch Wolkenfetzen verhangen und verzerrt.
    Vielleicht machte sie sich zu viele Sorgen, wenn sie davon ausging, dass ihre früheren Liebhaber sie erkennen würden, dachte sie mit bitterem Humor. Sie konnte nur hoffen, dass

ihr vernarbtes Gesicht Lord Strathmore nicht erschreckte – immerhin war er im Dschungel gewesen. Nach der Lektüre jenes Artikels hatte Mary geglaubt, dass Lord Strathmore vielleicht genau so ein edler Mann war wie sein armer, ga- lanter Vater, aber nachdem sie in England eingetroffen war und weitere Zeitungen gelesen hatte, hatte sie angefangen, sich Sorgen zu machen. Sie kannte sich in der Gesellschaft nicht aus und war nicht ganz sicher, ob der abenteuerlustige ältere Bruder derselbe war wie jener „Devil S …“, dessen leichtsinnige Eskapaden jeden Tag die Klatschspalten der Gesellschaftsblätter füllten. Sie konnte nur hoffen, dass er es nicht war, denn wenn er erst einmal erfuhr, mit welcher Sorte Mensch er es zu tun hatte, würde er seinen Verstand brauchen müssen.
    Als Marys Kutsche am Portman Square hielt, stieg sie aus und nickte Doyle grimmig zu. Er würde auf sie warten, bis sie zurückkam.
    Mit klopfendem Herzen verschwand Mary in der