Gaelen Foley - Knight 05 - Rache im Blut
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Lizzie schloss gepeinigt die Augen und dachte voller Gewis- sensbisse an den letzten Wunsch seiner Tante. „Werden Sie ab und zu nach ihm sehen, wenn ich nicht mehr bin? Er hat sonst niemanden mehr ...“
Nun, dachte sie, kein Wunder, dass er niemanden mehr hat, und resolut verdrängte sie alle Schuldgefühle. Der dumme Mann wehrte ja jeden ab, der versuchte, ihm nahe zu kom- men!
Er hatte ihr befohlen wegzugehen. So etwas musste man ihr nicht zweimal sagen. Zugegeben, in ihrem Herzen fühlte sie sich dazu verpflichtet, sich um ihn zu kümmern – das war sie seiner Tante schuldig –, aber wenn sie Skandalartikel wie diesen las, hatte sie keine Ahnung, wie sie das bewerkstelli- gen sollte. Eine unverheiratete junge Dame – noch dazu ei- ne, die als Lehrerin an einem Institut wie dem der strengen Mrs. Hall arbeitete – konnte ja wohl schlecht eine Mietdrosch- ke zum West End nehmen und dort bei einem berüchtigten Junggesellen wie Devil Strathmore an die Haustür klopfen. Zumindest nicht, ohne dass ihr Ruf beträchtlichen Schaden nähme. Warum sollte sie so ein Risiko eingehen?
Die Dinge entwickelten sich gut für sie. Natürlich machte sie der Tod der Herzoginwitwe traurig, aber ihre neue Stelle war ein Erfolg, sie hatte ihre deutsche Übersetzung rechtzei- tig abgegeben, und mit dem Honorar dafür vermehrten sich ihre Ersparnisse auf erfreuliche Weise. Es gefiel ihr, wieder so nahe bei London zu leben, wo sie Museen, Buchgeschäfte und
gelehrte Vorträge genießen konnte. Sie besaß viele Freunde in der Stadt und war nur eine Reitstunde von Jacindas Villa am Regent’s Park entfernt. Ab und zu traf ein freundlicher Brief von Dr. Bell für sie ein, obwohl sie seit jener Nacht mit Dev- lin nur noch platonische Gefühle für ihn hegen konnte.
Während Lizzie nachdenklich an ihrem Schreibtisch saß und um sich herum das Quietschen der Griffel auf den Schie- fertafeln der Mädchen hörte, wurde ihr klar, dass das einzige ungelöste Problem in ihrem Leben Devil Strathmore selbst war – allein bei dem Gedanken an ihn schmerzte ihr das Herz, ihr Gewissen meldete sich, und ihr Körper ...
Nach der Mathematikstunde hatten die Mädchen nur ein paar Minuten Zeit, um sich durch die große Halle in den Saal zu begeben, wo sie bei Miss Agnew ihren Tanzunterricht hat- ten, aber Lizzie hatte ein paar Stunden frei, bis ihre Fran- zösischstunde begann. Sie räumte gerade ihren Schreibtisch auf, als eine der Botinnen kam und ihr eine Nachricht von der Direktorin brachte, die sie in ihr Büro kommen hieß.
Mrs. Hall war keine Frau, die man warten ließ. Als die ers- ten Töne von Miss Agnews Pianoforte erklangen, eilte Lizzie bereits die Treppe herunter.
Das Büro der Schulgründerin ging vom Foyer ab. Als Lizzie anklopfte, wurde sie sofort hereingebeten.
„Kommen Sie herein, Miss Carlisle“, befahl die Direkto- rin. Sie war eine große, imposante Frau mit grauen Haar- schnecken, die unter einer weißen Haube hervorlugten. Ihr strenges Wollkleid war bis unter das Kinn zugeknöpft. „Miss Carlisle war selber Schülerin dieses Instituts, Mrs. Harris. Sie wurde als Gesellschafterin der Marquise von Truro und St. Austell erzogen, die, wie ich erwähnen darf, ebenfalls in unserer Akademie ausgebildet wurde. Zudem gehört sie zu den engsten Bekannten der Herzogin von Hawkscliffe und auch von Lady Winterley, der Frau unseres Nationalhelden Colonel Lord Winterley, wie Sie sicher wissen.“ Lizzie wand sich innerlich, als sie Mrs. Halls andächtiges Gesicht bei der Nennung dieser Namen sah, mit denen sie eindeutig ihre zwei Besucher beeindrucken wollte, die ihr an ihrem gro- ßen Mahagonischreibtisch gegenübersaßen. „Sie kann sehr gut mit den Mädchen umgehen. Miss Carlisle, das sind Mrs. Harris aus Dublin und ihre Tochter Sorscha.“
„Angenehm“, murmelte Lizzie höflich und knickste.
Das Paar sah sie ausdruckslos an.
Die Mutter trug die tiefschwarze Trauerkleidung einer Witwe. Ihr elegantes Seidenkleid und die Handschuhe wa- ren schwarz, und ihr Gesicht blieb hinter einem schwarzen Schleier verborgen, der an einem schwarzen Hut befestigt war. Die einzige Spur von Farbe, die man an ihr sah, waren die Enden ihrer langen, kupferfarbenen Haare, die unter dem Schleier hervorsahen.
„Mrs. Harris hat die junge Dame gerade an unserem Ins- titut angemeldet“, erklärte Mrs. Hall. „Würden Sie wohl so nett sein, Miss Carlisle, unsere entzückende neue Schülerin auf ihr Zimmer zu führen und ihr den Stundenplan
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