Gaelen Foley - Knight 05 - Rache im Blut
Sie hat die Idee zwar immer getadelt, aber eigentlich gefiel sie ihr wohl doch.“ Lizzie lächelte wehmü- tig. „Wie nett von ihr, dass sie an mich denkt.“ Versonnen faltete sie den Brief wieder zusammen und steckte ihn weg. „Jetzt muss ich nur noch Mrs. Hall überreden, mir den Vor- mittag freizugeben“, wandte sie sich verschwörerisch an Sorscha.
„Oh, Himmel, sie wirkt recht ... äh ... überwältigend.“
„Das ist gar nichts im Vergleich zu Lady Strathmore“, ver- sicherte Lizzie und griff dann nach dem Arm des Mädchens. „Aber komm jetzt, meine Liebe, damit ich dich den anderen Mädchen vorstellen kann.“
„Hoffentlich mögen sie mich“, überlegte Sorscha scheu.
„Keine Angst.“ Lizzie tätschelte ihr die Hand. „Ihr seid zum Abendessen sicher schon alle beste Freundinnen.“
Mit dem langen, schwarzen Schleier sah Mrs. Harris aus wie ein Geist, als sie Mrs. Halls Büro verließ und in ihre Kutsche stieg, deren Schlag von ihrem Diener Patrick Doyle aufgehal- ten wurde. Mit besorgter Miene musterte er Marys verschlei- ertes Gesicht.
„Es ist alles in Ordnung, alter Freund“, murmelte sie. „Sorscha wird hier sicher sein.“
Sie nannten das Mädchen nicht mehr Sarah. Kurz nach ih- rer Flucht hatte Mary den Namen des Mädchens in Sorscha geändert, um es zu schützen.
Der große Ire nickte und schloss die Kutschentür. Als sie
das imposante Herrenhaus hinter sich ließen, warf Mary noch einen langen, sehnsüchtigen Blick aus dem Kutschenfenster. Es fiel ihr schwer, sich von Sorscha zu trennen, nachdem sie zwölf Jahre lang immer nur zusammen gewesen waren, aber sie beruhigte sich damit, dass die junge Lehrerin Miss Carlisle sehr nett gewirkt hatte und offensichtlich darum bemüht war, dass ihre Adoptivtochter sich wohl fühlte. Sie vertraute den ehrlichen grauen Augen und dem freundlichen Lächeln der jungen Frau instinktiv, während ihr die ältere Frau mit ihrem pompösen Auftreten eher wie ein lächerli- cher Zankteufel vorgekommen war.
Mary kannte solche Frauen nur zu gut, hatte sie doch ihre gesamte Jugend damit verbracht, so zu tun, als machten ihr die spitzen Bemerkungen solcher tugendhaften Damen nichts aus. Was die Direktorin sagen würde, wenn sie wüss- te, dass es nie einen Mr. Harris gegeben hatte – oder dass die respektable Witwe einst die gefeierte Theaterschauspielerin Ginny Highgate gewesen war –, wagte Mary sich nicht ein- mal vorzustellen. Aber das spielte keine Rolle, denn all die Jahre, die sie sich nun in Irland versteckte, hatte sie dazu ge- nutzt, sich den Anschein der Respektabilität zu geben – um Sorschas Willen.
Sorscha allein war wichtig.
Ihr kostbares Findelkind war das Einzige in Marys Leben, worauf sie wirklich stolz war. Das Kind hatte die Leere in ihr gefüllt, und ihre Liebe zu der Kleinen hatte sie am Leben ge- halten, als sie sich am liebsten den Tod gewünscht hätte. So sehr es auch schmerzte, sich von Sorscha zu trennen, Sarah hatte die Chance verdient, ihren rechtmäßigen Platz im Le- ben zu bekleiden, Das war sie dem Mädchen schuldig.
Doyle fuhr in die Stadt und erreichte bald die Pension, in der Mary sich eingemietet hatte. Als er nach hinten kam, um Mary den Schlag aufzuhalten, murmelte sie: „Hol mich um Mitternacht ab. Halte die Kutsche bereit. Ich will keine Zeit vergeuden. Am Besten bringe ich alles sofort hinter mich.“
„Aye, Mylady.“
„Bis dahin werde ich mich ausruhen, und ich schlage vor, dass du dasselbe tust“, ergänzte sie lächelnd.
„Möchten Sie sich nicht ein bisschen in der großen Stadt um- schauen, Mylady?“, fragte Doyle augenzwinkernd, aber Mary warf einen bitteren Blick auf die qualmenden Schornsteine
Londons. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe schon vor langer Zeit genug von London gesehen.“ Damit raffte sie ihre Röcke und trat in die Pension.
In den nächsten Stunden versuchte sie, sich zu entspan- nen, las in der Bibel, aß alleine in ihrem Zimmer und legte sich dann aufs Bett, wo sie an die Decke starrte und sich vorstellte, wie Sorscha die gute Gesellschaft im Sturm ero- berte. Zuerst musste sie mit einem glänzenden Ball in die Ge- sellschaft eingeführt werden. Mary konnte sie sich schon als schöne Debütantin ganz in Weiß vorstellen. Sie würde sofort von Verehrern umlagert sein, die ihr mit größter Höflichkeit begegnen würden – wie einer echten Dame. Es würde Bälle und Tanzfeste geben. Almack’s. Wenn alles glatt lief, würde sie vielleicht sogar bei Hof
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