Gaelen Foley - Knight 06
nahe.“
„Nahe?“ Er hielt inne und blickte ins Leere. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie bedeutete alles für mich“, fuhr er nach ei- ner Weile kaum hörbar fort. „Ich war ihr Liebling.“ Er schenk- te Becky ein halbherziges Lächeln. „Sobald ich laufen konnte, nannte sie mich ihren Sonnenschein. ,Mein kleiner Held’.“ Er lachte leise und ließ die Finger über das weiße Damasttisch- tuch gleiten. „Ich war ihr Hofnarr. Ihr Vertrauter. Wenn die Duchess sich selbst als Aphrodite sah, dann war ich vermut- lich ihr kleiner Cupido, der für sie da war, wann immer sie sich langweilte.“
Becky beobachtete ihn nur und wartete ab. Irgendwann wür- de ihr Schweigen ihn dazu bringen, in seiner Erzählung fortzu- fahren.
„Jack ärgerte mich ständig und sagte, ich hinge an ihren Rö-
cken“, gestand er dann. „Aber Jack hasste seine Mutter.“ Alec zuckte die Achseln. „Er hasste jeden. Das ist noch immer so. Ich hegte keinen Abscheu gegen sie. Durch sie kam ich mir wichtig vor. Mir hat sie Dinge gesagt, die sie sonst niemandem preisge- geben hatte. Ich war der Einzige, der sie aufheitern konnte, wenn das Gerede um sie meine Mutter zum Weinen gebracht oder wenn irgendein Mann sie enttäuscht hatte. Wenn sie mit ihrem Mann stritt oder wenn ihr ältester Sohn sie anschrie, sie solle aufhö- ren, die Familie zu entehren. Sie zählte auf mich – und zugleich gab sie mir alles, was ich wollte. Als Bestechung vermutlich, um sicherzustellen, dass wenigstens einer in der Familie auf ihrer Seite war.“ Er schenkte Becky ein zynisches Lächeln.
Sie sah ihn an, sein anfänglich sanfter Tonfall war nun här- ter geworden. Sie begriff, dass er auf seine tote Mutter zornig war. Der Grund dafür war leicht zu erraten. Die Duchess hatte ihn wie ein verhätscheltes Schoßhündchen behandelt, solange es ihr entgegenkam, hatte sein Kinderherz mit den Problemen der Erwachsenen belastet. Dann war sie von heute auf morgen davongegangen, als neue Vergnügungen winkten.
„Sie hatte mich immer in den Arm genommen und gesagt: ,Du bist der Einzige, der mich wirklich lieb hat, mein Sonnen- schein.’„ Er verstummte auf einmal, dann fügte er spöttisch hinzu: „Du hattest recht. Ich war wohl verwöhnt. Als ich zwölf war, kaufte sie mir meinen ersten Phaeton.“ Er lachte wieder, doch es klang hohl.
„Als sie starb, musst du völlig verzweifelt gewesen sein.“
„Ich war nicht verzweifelt, ich war außer mir vor Zorn. Ich hatte sie gebeten, nicht nach Frankreich zu gehen, um die Kin- der zu holen. Es war zu gefährlich. Aber wie immer tat Ihre Gnaden, was ihr beliebte. Und mit wem es ihr beliebte. Auf dich, Georgiana: Feige warst du nicht. Das kann ich dir mit Gewissheit sagen.“ Er prostete seiner Mutter mit der Kaffee- tasse zu, doch der ironische Unterton seiner Worte war nicht zu überhören.
Becky bemerkte den Schmerz in seinen blauen Augen, der verborgen hinter seiner scheinbar oberflächlichen Gleichmütig- keit lag. Immerhin war er der Sohn eines Schauspielers – und sie verstand, dass Alec als Erwachsener zwar das tragische En- de seiner Mutter zur Kenntnis genommen, das Kind in ihm den Verrat aber niemals verstanden hatte. Hier saß ein Mann, der
den Frauen vielleicht niemals vertrauen würde.
Einen Moment lang schloss Becky vor seiner Bitterkeit und seiner Unerreichbarkeit die Augen. Wenn sie dieses Abenteuer wirklich gemeinsam bestehen wollten, dann, so wusste sie nun, würde sie ihn behutsamer behandeln müssen, als sie es bisher angenommen hatte. Seine Lässigkeit war nur eine Fassade, da- hinter verbarg sich ein äußerst sensibler Mann.
Tatsächlich war es genau diese Empfindsamkeit, die ihn zu so einem aufmerksamen und unglaublichen Liebhaber machte. In schon sehr jungen Jahren musste er begonnen haben, die Be- dürfnisse im Herzen einer Frau zu erkennen und zu erfüllen, so wie er es in der vergangenen Nacht für sie getan hatte. Er hatte darin eine große Kunstfertigkeit entwickelt.
Aber wie traurig war es, dass er von der Liebe nichts anderes kannte, als die Leere eines anderen zu füllen. Müsste man sich dann nicht im Grunde vor ihr schützen? Sie hätte es getan.
„Anders als du vielleicht glaubst, Alec“, sagte sie und be- trachtete ihre Teetasse, „denken nicht alle Frauen nur an sich.“
„Nicht?“, fragte er freundlich, während er die Morgenzeitung durchblätterte, seine Verletzlichkeit hinter einem beiläufigen Blick verbergend.
„Nein.“ Sie fühlte, wie Ärger in ihr
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