Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
als er abgeholt wurde.
Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr, nach wenig Schlaf und schlechten Träumen, betrat ich die Stationsküche, um die Schwestern auf der Intensivstation nach Andreas fragen zu lassen. Ich bekam einen Kaffee und die Nachricht, dass alles in Ordnung sei, es ihm wieder gut gehe und man ihn dann auch gleich abholen könne.
Als der Arzt Andreas in der Nacht auf der Intensivstation aufgenommen hatte, spritzte er ihm ein Medikament, das den Blutdruck sofort gesenkt, die Anfälle beendet und auch das Fieber gesenkt hatte. Daraus ergab sich für ihn ganz klar der Verdacht, dass Andreas ein Phäochromozytom, also einen Tumor in der Nebennierenrinde, haben könnte. Na klar, dachte ich, warum auch nicht? Ich glaube mich erinnern zu können, dass er sagte, er habe in seiner Doktorarbeit über dieses Thema geschrieben.
Nach einigen Untersuchungen wurde Andreas am Rosenmontag 1982 operiert. Vorweg: Es war kein Phäochromozytom nachzuweisen, aber seine linke Nebenniere war deutlich größer und somit Ursache für seinen manchmal sehr hohen Blutdruck und die erhöhte Körpertemperatur.
Ich werde niemals das Bild vergessen, als Andreas zur OP abgeholt wurde. Ich ging so weit wie möglich mit und überließ dann einen fröhlich winkenden Andreas seinem Schicksal.
Die Operation verlief gut, am nächsten Tag schon konnte Andreas die Intensivstation verlassen. Nach zwei weiteren Wochen konnten wir nach Hause. Andreas war sehr viel ruhiger, die Anfälle stellten sich jedoch nach wenigen anfallsfreien Tagen wieder ein.
ERLANGEN, WIR KOMMEN
Im Sommer dieses Jahres ging es Andreas schlagartig schlechter und so fuhr ich, nun unübersehbar schwanger, ein weiteres Mal nach Erlangen. Noch einmal Untersuchungen, dazu eine Umstellung der Medikamente, wieder ein paar Wochen Krankenhaus. Ich weiß nicht mehr, wie viele Medikamente wir nun schon durchprobiert hatten.
Andreas und ich genossen, trotz all der für ihn meist unangenehmen Untersuchungen, diese Zeit und gingen viel spazieren. Wir trieben uns in den Kaufhäusern herum, machten die Spielzeugabteilungen unsicher und schauten nach Babystramplern. Ich ließ bei einem der Fotografen im Kaufhaus Bilder machen. Das hatte ich die Male zuvor auch getan. Beim Abholen der Bilder stürzte ich, was auf der Station für helle Aufregung sorgte. Doch außer einem offenen Knie und einem lädierten Daumen tat ich mir nichts.
Im Nachbarzimmer war eine Frau mit ihrer Tochter Anja eingezogen, die älter war als mein Sohn. Wir waren uns sympathisch, freundeten uns an. Abends, wenn die Kinder schliefen, trafen wir uns auf dem Balkon und redeten. Anja würde bald sterben, das wusste ich von ihrer Mutter. Eines Tages machten wir uns auf den Weg in die Kantine. Andreas schlief und Anja winkte uns zum Abschied fröhlich zu. Wir saßen also beim Mittagessen, es gab Kohlrouladen – das werde ich wohl nie vergessen – als sie auf die Station gerufen wurde. Einige Stunden später war es vorbei und Anja war tot.
Nach den fast schon üblichen sechs Wochen fuhren wir wieder nach Hause, nachdenklicher als die Male zuvor.
Am 9. September 1982 wurde meine Tochter geboren. Ich hatte eine verdammte Angst während der Schwangerschaft, bis hin zu Claudias erstem Geburtstag. Danach wich die Angst der Hoffnung, dass da nie etwas kommen würde. Als ich mit dem Baby aus dem Krankenhaus kam, war Andreas schon von der Oma nach Hause gebracht worden. Ich legte ihm, als er auf dem Boden saß, seine Schwester in den Arm. Er war ein stolzer Bruder. Er tolerierte alles, nur nicht, wenn ich Claudia ungefragt in sein Bett legte. Das machte ich ein einziges Mal, in der Annahme, er würde sich freuen. Er versuchte sofort, sie an ihren Füßen aus seinem Bett zu zerren. Von da an habe ich ihn immer zuerst gefragt, ob es erlaubt sei, seine Schwester zu ihm ins Bett zu legen.
Es war eine sehr anstrengende Zeit mit einem Baby, das ich stillte und einem älteren Kind, das ich niemals aus den Augen lassen konnte. Trotzdem war ich mit meinen beiden Kindern glücklich. Das Baby lenkte mich ein wenig von Andreas ab, was wahrscheinlich ihm, ganz sicher aber mir gut tat.
MIT ZWEI KINDERN IM KRANKENHAUS
Als Claudia viereinhalb Monate alt war bekam sie einen Husten, der komisch klang, anders als das, was ich kannte. Der Kinderarzt erklärte, das sei ein Infekt der oberen Atemwege. Andreas’ Anfälle kamen wieder häufiger, seine medikamentöse Einstellung war offenbar nicht mehr in Ordnung. Es war nicht nur so, dass die
Weitere Kostenlose Bücher