Gaisburger Schlachthof
Kochkultur in Nahrungsmittel eingebaut hatten, um den Menschen die Anstrengung der Nahrungssu che und des Essens schmackhaft zu machen: Serotonin in Bana nen, Opiate in Brotkrusten, Bratkartoffeln und Pfeffer, alles chemische Stoffe, die im Hirn kurzfristige kleine Lustgefühle auslösten.
Man konnte sie auch durch andere, kräftigere Drogen ersetzen: Kokain oder Amphetamin oder Nikotin. Oder aber durch Ausdauersport, was denselben Effekt hatte, nur dass er mit körpereigenen Stimulanzien und Hungerblockern arbeitete.
Für den Durchschnittsfaulpelz mochten Sport und Diät reichen, aber bei manchen setzte nach der ersten Freude über kleinere Kleidergrößen der Ehrgeiz ein, auch den Nackt-Vergleich im Umkleideraum zu bestehen. Schlankheit war eine mächtige Zieldroge, und auf dem Weg dorthin bediente man sich kleinerer Drogen wie Ephedrin, früher in allen Appetitzüglern drin, ursprünglich ein Asthmamittel, das entwi ckelt wurde, um das Adrenalin zu ersetzen. Das Nebennierenhor mon löste bei Säugetieren die Flight-or-fight -Reaktion aus. Es beschleunigte den Herzschlag, erhöhte die Muskelkraft und erweiterte die Atemwege. Ein solches Überlebenskampfklima im Hirn bremste dann den Appetit, denn kein Tier denkt ans Fressen, wenn es alle Kraft braucht, sich zu retten. Ephedrin extrahierte man aus einer seltenen chinesischen Pflanze. Der künstliche Ersatzstoff hieß Amphetamin. Er schuf Wachheit und Glück. Doch alles, was glücklich machte, machte auch süchtig. Nahm die Konzentration des Wirkstoffs im Blut ab, verfiel man in eine verheerende Depression. Außerdem gewöhnte sich das Hirn an die Hormonzufuhr. Die appetitzügelnde Wirkung ließ bald nach.
Ich sah das Phantom Anette wieder vor mir mit der glasklaren Flasche am Hals. Hatte Fängele nicht tatsächlich etwas von innerer Auflösung der Organe angedeutet? War Anette nicht Schillers Freundin gewesen? Zumindest früher einmal. In meinem Hirn funkte es. Zum ersten Mal ahnte ich, warum Schiller tatsächlich getötet worden war.
Aber ich musste bis acht Uhr meine Zeit in der Redaktion absitzen. Dann war es zu spät, Sally im Krankenhaus mit hochnotpeinlichen Fragen vom Heilungsschlaf abzubringen.
16
Emma stand noch am Schlachthof, wo ich sie mittags bei meiner Flucht vor der Polizei zurückgelassen hatte. Als ich am gigantischen Gaskessel ausstieg, fiel mir Vicky ein, die ich unlängst in die Abelsbergstraße gefahren hatte. Gaisburg war ein altes Arbeiternest von immer noch dörflichem Charakter. Der Bäcker brachte morgens die Brötchen, beim Metzger tauschte man Familientragödien aus, in der Änderungsschneiderei neben der Bäckerschmide wurden Diäterfolge gefeiert, und auf den Wendeplatten der Sackgassen kloppten sich die Kinder. Derartig intim war selbst das Kaff unter der Schwäbischen Alb nicht gewesen, dem ich entstammte.
Aus einer Tür in der straßenlangen weißen Mauer von Rei henhäuschen kam die Treppe herab ein Mann, Vickys Versa ger. Der Kragen seiner rehbraunen Wildlederjacke krumpelte im Nacken. »Sie wollen zu meiner Frau?«, fuhr er mich auf dem Trottoir an. »Sie können sie haben. Ich scheiß drauf.«
»Nun mal langsam«, sagte ich.
Eine heimische Schreierei geisterte durch seine Aschgrau en Augen. »Sie können sie haben, sag ich, und das Haus gleich dazu. Es gehört mir sowieso nicht mehr. Sie können ihr ausrichten, wenn ich jetzt ins Auto steige, dann komme ich nicht wieder. Richten Sie ihr aus, dass ich mir damals nur darum keine Kugel in den Kopf gejagt habe, weil man ja Verantwortung hat für Frau und Kinder. Und das ist nun der Dank.«
»Hören Sie, es ist nicht so, wie Sie denken!«
»Scheiß drauf. Soll sie es doch treiben, mit wem sie Lust hat. Soll sie doch.«
Er drehte ab. Ich nahm davon Abstand, ihm zur Freude der Nachbarn hinterherzubrüllen, dass ich eine Frau sei. Das Au to, das vor seinem Audi stand, wackelte gehörig, als er ausparkte.
Ich stieg zur Haustür hinauf. Winzige Vorgärten – Tulpen in Beton gemauert, Efeupodeste, handtuchgroße Rasenstücke zierten jeden Eingang der Wohnwand. Die Grünstelle an die sem Eingang war von Plastikschaufeln und einem Plastikbagger verwüstet worden. Die Türklingel schnarrte durch sämtliche Wände. Ein kleiner Junge erschien im Türspalt, bohrte sich in der Nase und schlug die Tür wieder zu. Ein paar Sekunden später öffnete Vicky.
»Ach, du bist’s.« Die schwarzen Hasenaugen schwammen in rötlicher Soße.
»Störe ich?«
Im Haus hing dieser frisch
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