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Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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warst du wieder so lange?«, fragte Pit im Gang, mit dem Finger auf seine Uhr tippend.
    »Ich bin einer Bodybuilderin hinterhergelaufen«, log ich. »Redet zwar mit Bassstimme, hat aber nie was genommen. Sauber wie eine schwäbische Speisekammer. Die schwarzen Schafe sind immer die andern.«
    Pit lachte, und das Schlimmste war überstanden.
    »Thais heißen die Anabolen-Steroide«, erklärte ich, »weil man sie zumindest früher kofferweise aus Thailand einflog. Inzwischen bestellt man sie per Internet, bekommt sie aber auch überall unterm Ladentisch. Richtiges Testosteron spritzt dir dein Arzt auch schon mal augenzwinkernd gegen Impotenz. Ganabol kommt aus der Kälbermast. Das kann auch der Muskelmast nicht schaden. Wenn du einen Pokal gewinnen willst, solltest du zusätzlich das Wachstumshormon Norditropin nehmen. Erfolgreich experimentiert wird auch mit einem insulinartigen Wirkstoff. Der Nachteil ist nur, du bekommst davon eine lange Nase und große Ohren. Dann brauchst du natürlich noch was zum Aufputschen, zum Beispiel Ephedrin oder schlichtweg Amphetamin. Nicht zu vergessen die Schmerzmittel. Ein paar Tausender müsstest du dafür monatlich allerdings hinblättern. Verboten ist das nicht. Einnehmen darfst du das Zeug. Verboten ist nur der kommerzielle Handel damit. Das fällt nicht unters Drogengesetz, sondern unters Arzneimittelgesetz.«
    »Das kann doch nicht gesund sein!«, sagte Pit mit seiner brüchigen Pennälerstimme.
    »Ja, was glaubst du denn, warum sich Arnold Schwarzenegger an der Herzklappe operieren lassen musste?«
    »Das darfst du aber nicht ohne Beweis behaupten«, warnte Pit. »Und überhaupt, konzentrier dich mehr auf den weiblichen Aspekt, ja?«
    Frau, Gesellschaft und modernes Leben! »Der weibliche Aspekt?«, grübelte ich laut. »Nun ja, das Abnehmen. Im Schlachthof ist eine Aerobiclehrerin an Unterernährung gestorben.«
    »Ist das nicht wieder eine ganz andere Geschichte?«, ermahnte mich Pit.
    »Ja, aber ich habe ein Foto von ihr gesehen. Da sah sie noch ganz rund aus. Sie hat nur ein paar Monate gebraucht, um sich wegzuhungern. Das geht nur mit Drogen.«
    »Keine Spekulationen bitte! Konzentrier dich auf die Ger man Masters! Damit hast du genug zu tun. Morgen Nachmittag will ich den Artikel sehen.«
    Ich trollte mich in mein Kabuff. Das Interview mit der Bo dybuilderin würde ich erfinden. Das gab mir Zeit für anderes, was wie Nichtstun aussah, aber nur äußerlich.
    Vor meinem inneren Auge formierte sich das Bild, das Sal ly von Anette entworfen hatte. Sie saß im Tauben Spitz und spachtelte Kässpätzle, knochendürr mit wilden schwarzen Locken, neidvoll beobachtet von Sally. Nach dem Mahl zog Anette aus dem Rucksack eine große helle Flasche mit wasserheller Flüssigkeit, die sie in sich hineinschluckte. In ihrem Magen begann die chemische Auflösung der Nahrung, dann die der Magenwände. Die Organe lösten sich auf, die Muskeln. Ausgehöhlt von innen, in sich zusammenfallend, entschwand Anette aus allen Spiegeln des Schlachthofs. Ein Phantom.
    Magersucht nannte man dieses Phänomen. Manche aßen und kotzten hinterher, manche hörten ganz auf zu essen. Nach sechs Tagen ohne Nahrung begann das Hirn, Endorphine auszuschütten, nach zwölf Tagen war man völlig high. So setzte die Biochemie den Körper in Gang, auch unter Entbehrungen Kraft für die Nahrungssuche aufzubringen. Magersüchtige nutzten ihr Gefühl der Stärke, um sich dem gedeckten Tisch völlig zu entfremden. Wie sagte der Bodybuilder? Ich kramte in meinen Papieren. »Ein guter Body stärkt dein Ego.«
    Das Motiv der Magersucht war bekannt: Schönheitsdruck auf junge Mädchen. Nicht auffallen, nicht anecken, keinen Raum einnehmen, sich nicht durch Brust und Po als Frau demaskieren.
    Warum ein Mensch das Hungern schön fand, war verhältnismäßig leicht zu erklären, handelte es sich doch um eine sehr starke körpereigene Droge, die dabei im Spiel war. Warum ein Mensch aber aß und warum er gar zu viel aß, das war viel schwieriger zu erklären. Darüber gab es so viele Theorien wie Schlankheitsmittel, angefangen bei dem Darmhormon CCK, das Fresssüchtigen fehlte, bis hin zur astrologischen Konstellation zur Geburtsstunde des Unglücklichen. Es gab keine Menschen, die süchtig nach Flüssigkeit waren – von der Alkoholsucht abgesehen, die aber dem Alkohol galt –, aber Menschen, die ohne Bremse Nahrung einschoben, die gab es sehr wohl. Es schien, als erlägen sie den Stimulanzien, welche die Natur und unsere

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