Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
Schloss zu stecken und herumzudrehen. Dass ich etwas Falsches gegessen hatte, ließ ihr vermutlich keine Ruhe, und nun brachte sie den Pfefferminztee.
    Ich legte den Telefonhörer auf die Gabel, stellte den Apparat auf den Tisch, ging zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Die Tür platzte mir entgegen, und an Oma Scheible vorbei, deren weißer Dutt im Treppenhausdunkel peripher aufleuchtete, stürmte Christoph Weininger herein, gefolgt von seinem langen dünnen Kollegen.
    Er bremste schlitternd auf den Dielen. Ich war im Vorteil, ich kannte das Terrain. Ich brauchte ihm nur ein Bein zu stellen und ihn mit einem Stups in den Nacken durch die nächste Tür in mein Schlafzimmer zu befördern. Der dumpfe Bums blieb allerdings aus. Wahrscheinlich war Weininger kopfüber ins Bett gestürzt.
    Heiliger wich zur Tür zurück. Kampftechniken gehörten nicht zum Pflichtprogramm der Polizei. Dafür war der Junge bewaffnet. Er langte sich unters Jackett. Doch schon erschien Weininger in der anderen Tür wieder. »Gratuliere. Das muss Ihnen erst mal einer nachmachen. Alle Achtung. Aber jetzt mal im Ernst.«
    Heiliger zog die Hand zögerlich, aber leer wieder aus dem Jackett. Ein verantwortungsbewusster junger Mann. Dafür hantierte Weininger jetzt mit Handschellen. »Frau Nerz, ich muss Sie vorläufig festnehmen.«
    Flight or fight? Das war alles eine Frage des Adrenalinspiegels. Adrenalin hatte ich im Moment jede Menge im Blut. Ein Rest von Erinnerung an den Normalzustand warnte mich zwar davor, es zugleich mit zweien aufzunehmen, aber die Alternative war auch Wahnsinn. Nur dass mir zu spät klar wurde, dass ich im dritten Stock wohnte. Da war ich schon über meinen Esstisch und durch das im Frühlingswahn geöffnete Fenster nach draußen gesprungen.
    Seit einiger Zeit konnte man in Stuttgarts Schrebergärten die Neigung des Menschen beobachten, sich vom Wetter unabhängig zu machen. Überall hatte man diese weißen Zeltdächer aufgestellt, um den Kaffeetisch oder den Würstchengrill vor dem Eigensinn des Wochenendwetters zu schützen. Genau so ein Zeltling war im Hinterhof unter meinem Fenster aufgebaut.
    Die weiße Plastikplane war fest, das Leichtmetallgestänge darunter nachgiebig. Das ganze Zelt knickte ein. Es knirschte metallisch, ehe Geschirr und Holztisch klirrten und barsten. Auf den Stufen zur Hinterhoftür stand Frau Matuschek in geblümtem Sommerkleid, die Kaffeekanne in der Hand, offenen Mundes erstarrt.
    »Ich ersetze Ihnen den Schaden«, rief ich und strampelte mich aus der Plane.
    Der Hinterhof hatte zwei Ausgänge. Die Polizisten rasten jetzt vermutlich die Treppen runter, um den Hof von der Ne ckarstraße her zu stürmen. Ich setzte mich zwischen Autowerkstatt und Klinkerwand in die Werastraße ab. Der Waldlauf von gestern steckte mir noch in den Muskeln, und der Schock des gerade überlebten Sprungs aus dem dritten Stock machte meine Knie gummiartig. Außerdem war die Stange des Zeltlings doch härter gewesen als menschliches Gewebe. Eine Prellung an der Lendenwirbelsäule würde mich vermutlich bald bewegungsunfähig machen. Schon die leichte Steigung der Urbanstraße wäre ohne die fatale Wunderwirkung von Gertruds Pille nicht zu bewältigen gewesen.
    Ich wünschte, ich hätte das Adrenalin aus meinem Körper expedieren können, und musste dringend von der Straße runter. Da die Polizei Flüchtigen immer zunächst per Auto folgte, strebte ich zum U-Bahn-Eingang am Neckartor. Eine Stadtbahn fuhr gerade ein und öffnete die Türen. Die Leute saßen vereinzelt in Viererbänken. Die Blicke blieben kiebig, die Mienen hölzern. Eine auf Band konservierte Frauenstimme sagte die Haltestellen auf: »Staatsgalerie«, »Schlossplatz«. Unter der elektronischen Streckenmarkierung, deren Lichtpunkt von Haltestelle zu Haltestelle sprang, klebte auf dem Oberfenster ein Gedicht.
    »Dunkel war’s, der Mond schien helle/ Als ein Wagen blitzeschnelle/ Langsam um die Ecke fuhr./ Drinnen saßen stehend Leute,/ Schweigend ins Gespräch vertieft./ Und ein blond gelockter Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar/ Aß ’ne Butterstulle, die mit Schmalz bestrichen war …«
    Ich kam allmählich zur Vernunft. Warum hatte ich mich nicht einfach festnehmen lassen? Was war schon dabei? Selbst wenn ein Untersuchungsrichter morgen aus einem halben Tag und einer Nacht im Polizeigewahrsam eine Untersuchungshaft machte, jeder halbwegs geschickte Anwalt hätte mich da in absehbarer Zeit wieder rausgeholt, bei der dünnen Beweislage. Und

Weitere Kostenlose Bücher