Gaisburger Schlachthof
ich hatte ein Drama daraus gemacht, als stünde ich kurz vor einem tödlichen Justizirrtum.
Diesem Fehler folgte sogleich der zweite. Überall hätte ich aussteigen dürfen, nur nicht am Charlottenplatz. Aber damals wusste ich noch nicht, dass die Polizei im Fahndungsfall in allen U-Bahnhöfen auf die Überwachungskameras der Stuttgarter Stadtbahn zugreifen konnte.
Auf dem Bahnsteig kicherten ein paar Mädchen mit Schlaghosen, Plateauschuhen und freiem Bauchnabel. Zwei schwarz uniformierte Wachleute patrouillierten vor den Schaufenstern eine Ebene höher. Einer leckte ein Eis.
Ich zielte auf die Telefonzellen an den Treppen zum Licht. Leider hatte ich beim Sprung aus meinem Fenster das Handy auf dem Tisch zurückgelassen.
Nach dem zweiten Klingeln schaltete sich wiederum Richards Anrufbeantworter ein. »… nach dem Pfeifton. Ich rufe gegebenenfalls zurück.«
Im Amt ließ ich es zehnmal klingeln und war besorgt. Gut, auch das Leben eines Arbeitstiers wie Richard spielte sich vermutlich nicht nur in Amt, Privatwohnung und Schlachthof ab, aber wieso verschwand er gerade jetzt?
Hätte er nicht eigentlich auf meinen Anruf lauern müssen? Ich meine, war denn vorgestern in seinem Amt gar nichts zwischen uns passiert, das auf Fortsetzung drängte oder zumindest auf eine Nachlese?
Mir fiel der Tennisclub ein, der in Elsäßers Berichten von Lops und Flops gelegentlich eine Rolle spielte. Das Telefonbuch half weiter. Dem Hintergrundgemurmel nach zu schließen, landete ich in der Vereinskneipe. Ein Mann erklärte sich widerstrebend bereit, Herrn Dr. Weber ausrufen zu lassen. Ich hing minutenlang in der Leitung, ehe er sich erinnerte, mir Bescheid zu geben, dass Herr Dr. Weber wohl nicht auf dem Platz sei. Jetzt machte ich mir doch Sorgen.
Im Schlachthof war ebenfalls ein Anrufbeantworter ge schaltet, auf der Gertruds Stimme die Öffnungszeiten erläuter te, nach denen sonntags geschlossen war. Na gut, dachte ich, vielleicht hatte Richard ja mit Katrin noch was zu klären, bevor er sich mit mir einließ. Ich wählte die Nummer von Schiller F. und hörte: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Katrin hatte es eilig gehabt, seinen Anschluss zu sperren. Sie selbst wohnte vermutlich ohnehin ganz woanders. Die Telefonauskunft erklärte mir, ohne sich auf Diskussionen einzulassen, dass Katrin Schiller eine Geheimnummer habe. Schiller musste sie auch telefonisch terrorisiert haben.
Mir brach der Schweiß aus. Es hatte im Schlachthof schon zu viele Opfer gegeben. Wer war jetzt dran? Ich oder Ri chard? Stellte ich mich Weininger oder lieber der Schutzpolizei? Was war der größte Fehler, den ich jetzt begehen konnte? Statt einer Antwort fiel mir Gertrud ein. Sie musste doch Katrins Telefonnummer haben. Eilig schlug ich Fängele nach. Die Nummer flirrte vor meinen Augen. Ich erhaschte sie, nahm den Hörer und sah hoch.
Soeben kamen zwei Streifenpolizisten die Rampe in die U-Bahn-Station herab. Baumelnde Pistolen unter grünen Jacken. Am Fuß der Rampe trafen sie mit den beiden schwarzen Wachleuten zusammen. Dem einen begann sein Eis peinlich zu werden. Alle Augen wandten sich plötzlich meiner Telefonzelle zu. Der jüngere der Polizisten knöpfte verstohlen seine Pistolentasche auf. Der Wachmann hielt nach einem Papierkorb für sein Eis Ausschau.
Ich hätte die Treppe hinaufrennen können wie ein gestörter Hase. Aber dann wäre ich unweigerlich ins äußerst effiziente Verfolgungsnetz der Streifenwagen geraten. Zwischen Bahnsteig und mir rückten die Bullen vor. Keiner rechnete damit, dass der Hase direkt auf sie zukam. Der Milchbart vergaß seine Pistole und sprang erschrocken beiseite. Der Wachmann hatte, weil er gut erzogen war, wegen der Eistüte die Hand immer noch nicht frei. Aber er hatte große gestiefelte Füße, die meinen Lauf unterbrachen. Ich riss die Arme hoch, um den Kopf zu schützen, und legte eine Judorolle auf die Platten.
»Halt! Stehen bleiben!«, brüllte es hinter mir her.
Ich übersprang die Absperrung zum Bahnsteig, der rund anderthalb Meter tiefer lag, und torkelte einer alten Frau vor die Füße. Jemand kreischte auf. Leute wichen aus. Die entgeisterten Gesichter des Publikums nahm ich noch wahr. Abscheu und Feigheit. Man wollte den Hasen auf der Strecke sehen, aber nicht gebissen werden. Die Girlies mit den Schlaghosen juchzten zurück. Eine Straßenbahn zog auf. Wil des Gebimmel und Notbremsung mit Sandstaub, als ich auf die Gleise taumelte und mich übers Sperrgitter zwischen den Schienen auf
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