Galgenberg: Thriller (German Edition)
ich nicht«, erwiderte Clare. »Vielleicht nach einem Gefühl für den Ort; einer Antwort darauf, wie man eine Frau von ihrem Kind trennen und erst auf den Signal Hill bringen konnte, um sie dann unten am Gallows Hill zu begraben – alles ohne einen einzigen Zeugen. Wahrscheinlich will ich einfach herausfinden, welches Steinchen noch fehlt.«
»Wahrscheinlich«, wiederholte Lilith. »Aber du passt auf dich auf, ja? Ich habe da unten schon einmal jemanden verloren.«
»Mir passiert schon nichts.«
»Das hat meine Mutter auch immer gesagt, bevor sie ausging.«
»Hat sie das auch in jener letzten Nacht gesagt?«, wollte Clare wissen.
Lilith zündete sich eine Zigarette an. »Nein.« Sie wedelte den Rauch weg. »Ich glaube nicht.«
»Also, mir wird jedenfalls nichts passieren«, behauptete Clare fest. »Und wir sehen uns später bei den Osmans. Soweit ich gehört habe, wird es ziemlich voll.«
»Jeder, der jemand sein möchte, wird da sein. Du wirst mir das erträglich machen.«
»Ich werde dort sein.« Clare stapelte die Papiere auf dem Tisch.
»Okay, aber schlepp nicht das ganze Zeug mit dir rum. Vorerst ist es hier sicherer«, sagte Lilith. »Ich kann dir den Ersatzschlüssel geben. Dann kannst du später herkommen und alles mitnehmen.«
»Hört sich nach einem guten Plan an«, meinte Clare.
Sie zog Liliths Küchentür hinter sich zu. Ein indischer Goldregen überdachte die alte Pergola und ließ orangefarbene Blüten regnen. Hinter den Büschen ragte wie ein Galgen das Gerüst einer verlassenen Schaukel auf. Im Westen glitt die Sonne unaufhaltsam dem Ozean entgegen.
Clare öffnete das Tor hinten im Garten und sah zur Kuppe des Signal Hill auf. Den Weg, auf dem Lilith so gern mit ihrer Mutter spazieren gegangen war, an dem sie eilig auf ihren kurzen Kinderbeinen hinter dem wehenden Rock hergeeilt war. Das Gras beiseitegeschoben hatte, über die schwarzen Steine gerutscht war, Steine, rutschig vom Wasser, das durch den Signal Hill gesickert war und den Steinbruch gefüllt hatte, selbst im staubtrockenen Februar. Wasser, das einst frei ins Meer geflossen war, wurde nun in Regenkanäle geleitet – wie Liliths halb vergessenen Tunnel.
Clare ging den Weg hinauf und blieb auf der Kuppe stehen, hinter der der Signal Hill zur High Level Road abfiel. Darunter Green Point, wo getönte Fensterscheiben der untergehenden Sonne zublinzelten. Clare stellte sich das Viertel vor zwanzig Jahren vor, die Brachflächen, die alten Häuser, das unverbaute Gelände zwischen dem Gallows Hill und dem Ozean. Und von dem Haus am Carreg Crescent zu der Baustelle am Gallows Hill.
Ein alter Hund, gelb wie eine Hyäne, trottete vorbei. Clare erkannte Jennie, den Hund vom Gallows Hill, wieder – inzwischen war sie noch ausgezehrter als damals. Sie glitt durch das braune Gras und verschwand weiter unten, in der Mündung eines Kanals an der High Level Road.
Der Wind peitschte Sand und Müll um Clares Beine, als sie am Gallows Hill aus ihrem Wagen stieg. Die Wachmänner schoben den Stacheldraht zur Seite und ließen sie passieren. Kleine Pflöcke zeigten an, wo menschliche Überreste exhumiert worden waren. Manche waren Sklaven gewesen, andere Landstreicher, wieder andere Kriminelle oder einfach arm. Alle waren ohne Aufhebens in Gräber geworfen worden. Jetzt war nur noch ein Loch geblieben, dunkel und leer. Aber nicht alle Knochen waren ausgegraben worden – schaudernd sah Clare herausragende Knochenenden, schutzlos dem Biss der Luft ausgesetzt.
Die abgerissenen Enden des Absperrbandes flatterten über der Grube, in der Suzanne le Roux begraben worden war. Clare ging in die Hocke, schloss die Augen und ließ den Sand durch ihre Finger rieseln. Sie blickte auf und sah die Lichter in den Häusern am Signal Hill angehen. Liliths war darunter. Ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen entfernt.
Clare schloss die Augen. Sie stellte sich Suzanne an dem Ort vor, an dem sie jetzt stand, den erhobenen Arm eines Mannes, den schwarzen Stein in der Faust, die nach unten schießende Hand, den Schädel, der unter dem Stein zersplitterte. Sie sah Suzanne stürzen wie in ihrem Traumbild: mit wirbelnden Armen, das grüne Kleid weit geöffnet wie Engelsschwingen. Im Augenblick des Todes Suzannes letzter Gedanke : an ihre allein im Bett liegende Tochter. Das Wissen, dass sie Lilith nie wieder zudecken würde, dass sie nie wieder an ihrem Bett sitzen und ihre eine Gutenachtgeschichte erzählen würde, um sie aus dem Tag in den
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