Galgenberg: Thriller (German Edition)
Ereignisse in dieser Nacht entdecken würde, könnte ich sie vielleicht nie wieder begraben. Ein einziges Mal habe ich das versucht, und das hat mich fast umgebracht.«
»Diesmal ist es anders, Lilith«, versicherte Clare ihr. »Du brauchst es nur noch dieses eine Mal zu tun, denn diesmal jagst du keine Schatten, sondern Tatsachen.«
»Du glaubst wirklich, alles liegt separat in korrekten kleinen Schubladen, nicht wahr? Wissenschaft, Erinnerung, Schuld, Strafe, Happy End. All das.«
»Versetz dich zurück«, sagte Clare. »Der Rest kommt von selbst. Fang mit den Käsemakkaroni an.«
»Diese Erinnerung hat Sophie für mich aufbewahrt. Ich bin ihr wirklich dankbar dafür, aber was soll mir die helfen?«
Die in ihrem Kopf kreisenden Fragen brachten ihr Herz zum Flattern, als hätte sich ein Vogel unter ihren Rippen verfangen. Sie zündete sich noch einen Joint an. Der süße Duft beruhigte sie. Das Brennen in der Lunge bei jedem Zug war wie Vergessen. Lilith atmete aus. Irgendwann war es Zeit loszulassen.
»Du musst mir helfen, Clare.« Sie hatte das Gefühl, wie ein Boot auf unbekannten Gewässern abzutreiben.
»Konzentrier dich auf die Sinneseindrücke«, riet Clare. »Auf die Details. Geruch, Geschmack, Gefühle – an diesen Kleinigkeiten ankern die großen Erinnerungen. Winzige Dinge können die Erinnerung beflügeln.«
»Prousts Madeleines«, sagte Lilith, »sind meine Makkaroni.«
Sie griff nach den Pastellkreiden, die ordentlich aufgereiht dalagen, und zog ein Blatt Papier heran. Begann, flüchtig zu zeichnen. Farbe und Form. Bilder, die von jenseits der Zeit zurückkehrten. Ein runder, weißer Teller, cremehelle Makkaroni, der blutrote Klecks Tomatensoße. Eine schnabelhafte Gabel, die wurmförmige Nudelkringel aufpickte. Große, flächige Hände, die sich um eine Tasse legten.
Eine Weile war nur das Kratzen der Kreide auf Papier zu hören.
»Das Radio lief«, erzählte Lilith und setzte im Malen ab. »Die Xhosa-Station. Sophie war aufgeregt. Jetzt weiß ich, warum.Wegen ihres Sohnes.«
»Wer hat dich ins Bett gebracht?«, fragte Clare.
»Sophie.« Lilith begann wieder zu zeichnen. Eine Gestalt, die sich über ein Kind beugte, das Kinderhaar wie eine goldene Wolke auf dem Kissen. Ein Teddybär.
»Boris«, antwortete Lilith unter dem Zeichnen. »Nachts schob ich die Hände in den Reißverschluss in seinem Bauch.
Ein Hauch von Chanel – der Duft meiner Mutter. Ich tat so, als würde ich schon schlafen. Sie deckte mich noch mal zu.«
»Und dann?«, fragte Clare.
Lilith zwirbelte die Kreide in ihren Fingern, ihr Atem ging zu schnell.
»Lass deine Erinnerung laufen«, riet ihr Clare. »Und sieh einfach nur zu, wie in einem Film.«
»Ich bin aufgestanden«, sagte Lilith. »Vielleicht hat mir irgendwas Angst eingejagt.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Manchmal habe ich mich oben auf den Treppenabsatz gesetzt«, fuhr Lilith fort. »Wahrscheinlich habe ich dort gelauscht.«
»Und deine Mutter?«
»Die muss in der Küche gewesen sein.«
Lilith zeichnete eilig. Der blaue Tisch, die Eichenanrichte, die Spüle mit den unruhigen Bougainvillea-Blüten vor dem Fenster. Ein Kind, gegen das Geländer gepresst, ein Fischauge, das durch die Stäbe starrte. Lilith zeichnete immer schneller, die Skizzen wurden gröber. Eine Frau im grünen Kleid, die nackten Arme auf den Tisch gestützt.
Lilith hielt inne. Ihre Brauen zuckten.
»Sie hatte ihr Skizzenbuch aufgeschlagen«, sagte Lilith. »Aber sie zeichnete nicht nur. Vor ihr lagen Papiere, in die sie immer wieder schaute, und dann zeichnete sie etwas in ihr Buch. Ich weiß nicht genau, was sie da tat.«
»Glaubst du, dass sie vielleicht an denen hier gearbeitet hat?« Clare schlug Suzannes letztes Skizzenbuch auf.
Wieder sah Lilith auf die perfekt ausgeführten Kopien der Kunstwerke, auf die Zahlen.
»Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete Lilith verunsichert. »Ich weiß nur eines. Irgendwann hat sie die Papiere wieder in den Umschlag gesteckt, das steht fest. Denn als ich am Tisch vorbeiging, lag nichts mehr darauf.«
»Wo ist sie hingegangen?«, fragte Clare.
»Meine Mutter öffnete die Tür.«
»Wer steht davor?«
Lilith zog die Schultern hoch. »Ich sehe nur einen langen Schatten.«
Clare spürte Liliths Angst, den Sog der Erinnerung, in dem sie unterzugehen drohte.
»Wann bist du am Tisch vorbeigegangen, Lilith?«
»Das weiß ich nicht mehr«, fuhr Lilith sie an. »Vielleicht gar nicht. Vielleicht denke ich mir das nur für
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