Galgenberg: Thriller (German Edition)
um eine Kurve, hielt an. Der Kofferraum klappte auf.
»Captain.« Dlaminis dunkler Schatten über ihm. »Wir sind angekommen.«
Dlamini setzte den Lauf einer Waffe an Riedwaans Schläfe. »Noch fünfzig Schritte. Genau wie früher zum Galgen.«
41
Die Sonne stand als weiße Scheibe am rauchigen Himmel über dem Signal Hill. Der Carreg Crescent war menschenleer – alle am Strand –, als Clare die Straße hinauffuhr. Lilith öffnete ihr und lehnte sich an die Wand, um ihr Platz zu machen. In Liliths Gesicht lag eine so tiefe Trauer, dass Clare fast verzweifelte.
»Ich hätte dich nicht mit nach Laingsburg nehmen sollen – das hatte ich falsch eingeschätzt.«
»Nein, nein, Clare. Ich bin froh, dass ich dort war.« Lilith klopfte auf die Papiere, die Clare auf den Tisch gelegt hatte. »Und jetzt?«
»Jetzt rekonstruieren wir das Wochenende, an dem deine Mutter verschwand.« Clare stöpselte ihr Handy ein, um es aufzuladen. »Angefangen mit der Vernissage am Samstagabend.«
»Komm, wir legen alles in meinem Atelier aus«, schlug Lilith vor. »Das war immer der Lieblingsraum meiner Mutter. Vielleicht steht sie mir heute ausnahmsweise zur Seite.«
»Hast du ihre Anwesenheit je gespürt?«
»Sie hat mir rein gar nichts hinterlassen«, sagte Lilith. »Nicht einmal einen Geist.«
»Sie lebt in deinen Erinnerungen. Jede Sekunde, die du mit ihr verbracht hast, ist darin gespeichert.«
»Glaubst du das wirklich?« Lilith zog an der Schnur des Ventilators, und die Rotorblätter begannen, die träge Luft zu durchschneiden.
»Ich habe einmal gelesen«, sagte Clare, »dass das Vergessen das komplizierteste aller Schlösser sei, aber es sei eben doch nur ein Schloss. Dein Geist nimmt alles auf, legt alles ab, ordnet es ein und bewahrt es auf. Der Schlüssel zu allem liegt in jener Nacht, Lilith. Und diesen Schlüssel besitzt du allein.«
»Na, dann versuch du, das Schloss zu knacken. Ich habe das schon einmal überlebt. Ich sollte es auch beim zweiten Mal überleben.«
»Willst du das wirklich?«, fragte Clare.
Lilith drehte sich einen Joint und zündete ihn an.
»Ja.«
»Hier sind die Zeitungsausschnitte, die Fotos von der Vernissage.«
Clare breitete sie der Reihe nach am linken Ende des langen, schmalen Ateliertisches aus. »Und das sind die Notizen, die ich mir davon gemacht habe, wie Wilma Smit dich gefunden hat. Das hier«, ihr Finger zeigte auf die nächsten Zettel, »sind die Notizen von meinem Gespräch mit Jacques Basson. Es gibt nichts darin, was den offiziellen Berichten widersprechen würde. Es ist fast unheimlich, wie genau er sich an alles erinnern kann.«
»Vielleicht kann er es, weil er lügt«, meinte Lilith. »Weil er sich alle Details ausgedacht und dann eingeprägt hat wie ein Gedicht, das man in der Schule aufsagen muss. Wenn es erst einmal im Kopf ist, dann bleibt es für alle Zeiten darin. Es ändert sich nie. Die Wahrheit dagegen verändert sich in der Erinnerung. Was du dir gewünscht hast, was du ersehnt hast, was du nicht ertragen konntest, alles beeinflusst das Erlebte, bis du nicht mehr bestimmen kannst, was damals wirklich passiert ist.«
»So wie ich es sehe, gibt es zwei Orte, an denen wir unsere Erinnerungen bewahren«, sagte Clare. »Den Kopf und das Herz.«
»Beide sind unzuverlässig.«
»Was mein Herz angeht, bin ich mir nicht so sicher«, gestand Clare ihr, »aber mein Kopf behält das Wesentliche – also, wenigstens meistens.«
»Mal sehen, ob das so bleibt, wenn du öfter mit mir zusammen bist«, lächelte Lilith.
Ein Starenpärchen kreiste vor dem Fenster.
Clare ordnete die Papiere neu an. »Mal sehen, woran du dich erinnern kannst. Ob dir irgendwas entfallen ist.«
»Clare, ich war damals vier. Falls ich je etwas gewusst habe, habe ich es vergessen.« Liliths Stimme wurde hart. »Ich habe nicht darum gebeten, dass das Skelett meiner Mutter ausgegraben wird. Sie ist seit vielen Jahren tot. Wie sie gestorben ist, ändert nichts daran. Sie ist tot. Was damals passiert ist, musst du klären. Das ist dein Job.«
»Aber ohne dich schaffe ich das nicht. Seit dreiundzwanzig Jahren lebt ihr Mörder ungestraft«, wandte Clare ein. »Jemand hat einem kleinen Mädchen die Mutter geraubt, hat dir die Mutter geraubt. Das lässt mir keine Ruhe.«
»Bis jetzt habe ich alles einfach vergraben. Anders hätte ich nicht überlebt.« Liliths Stimme wurde wieder weicher. »Ich habe Angst, meine Erinnerungen zu exhumieren, denn wenn ich auch nur die kleinste Spur der
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