Galgenfrist für einen Mörder: Roman
ihm bisher trotz all unserer und Durbans Bemühungen hervorragend gelungen, Phillips zu beschützen.«
Claudine starrte sie bestürzt an. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Sir Oliver erpresst wurde?« Sie verstummte. Allein schon die Tatsache, dass sie zu einem solchen Gedanken fähig war, bereitete ihr Schuldgefühle. Und dann hatte sie ihn auch noch ge äußert! Sie wusste selbst, dass ihr Gesicht dunkelrot angelaufen war, doch jetzt war es zu spät, etwas zurückzunehmen.
»Nein«, antwortete Hester ohne jeden Groll. »Aber ich frage mich, ob er womöglich manipuliert wurde, ohne zu merken, welches Spiel gespielt wird. Das Schlimme ist, dass ich nicht weiß, was ich tun kann, um Phillips etwas nachzuweisen. Wir alle sind so« – sie seufzte – »schrecklich angreifbar.«
Claudines Gedanken überschlugen sich. Konnte sie vielleicht etwas tun? Seit sie in der Klinik arbeitete, hatte sie Seiten des Lebens kennengelernt, die sie zuvor nicht einmal in ihren furchtbarsten Albträumen für möglich gehalten hätte. Zumindest konnte sie jetzt die Frauen besser verstehen, die durch diese Türen ein und aus gingen. Nicht nur in Bezug auf Kleider und Manieren unterschieden sie sich von den Damen der Gesellschaft, sondern auch, was Hintergrund und Hoffnungen für die Zukunft betraf, Gesundheit, Fähigkeiten und schlicht das, was sie zum Lachen brachte oder zur Wut reizte. Doch in anderer Hinsicht waren sie auf herzzerreißende Weise genauso wie sie. Und das waren die Aspekte, die sie berührten, ihr Mitleid erregten und ihr allzu oft ihre Hilflosigkeit vor Augen führten.
Claudine trank ihren Tee aus, entschuldigte sich, ohne ein weiteres Wort über die Sache zu verlieren, und ging zu Squeaky Robinson, mit dem sie nun wirklich eine schwierige Beziehung hatte. Dass sie überhaupt mit ihm sprach, lag an den Umständen in der Klinik, die sie – zumindest am Anfang – dazu gezwungen hatten. Mittlerweile bestand zwischen ihnen eine Art angespannter und problematischer Waffenstillstand.
Sie klopfte vorsichtig an. Gott allein wusste, was er tun würde, wenn sie ohne Vorwarnung hineinspazierte. Als er antwortete, öffnete sie die Tür, betrat das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
»Guten Morgen, Mr. Robinson«, begrüßte sie ihn steif. »Wenn wir miteinander gesprochen haben, bringe ich Ihnen gern eine Tasse Tee, wenn Sie möchten, aber vorher muss ich Ihnen etwas mitteilen.«
Er blickte misstrauisch auf. Wie immer trug er seine zerknitterte Jacke und ein Hemd, das vermutlich noch nie ein Plätteisen gespürt hatte, und sein Haar stand von der Stelle aus, wo er es sich mit einer gewissen Verzweiflung gerauft hatte, in sämtliche Richtungen ab.
»Gut«, sagte er sofort. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Ich bin durstig.« Er legte seine Feder nicht beiseite, sondern hielt sie über das Tintenfass. Er schrieb die Zahlen immer gleich mit Tinte ins Reine. Fehler unterliefen ihm offenbar nie.
Sein abweisendes Verhalten reizte sie, doch sie bezähmte ihren Ärger. Schließlich war sie auf seine Mithilfe angewiesen. Und allmählich nahm ein Plan in ihr Gestalt an.
»Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Aufmerksamkeit zu schenken«, erwiderte sie vorsichtig. »Und zwar die ungeteilte.«
Er starrte sie bestürzt an. »Was is’ passiert?«
»Ich hätte gedacht, Sie wären darüber ebenso im Bilde wie ich, aber vielleicht habe ich mich getäuscht.« Sie nahm unaufgefordert Platz. »Ich erkläre es Ihnen. Jericho Phillips ist ein Mann, der …«
»Darüber weiß ich Bescheid«, bemerkte er spitz.
»Dann wissen Sie auch, was geschehen ist. Wir müssen diese Angelegenheit unbedingt zu einem Abschluss bringen, damit wir wieder zu unseren eigentlichen Aufgaben zurückkehren können, ohne durch seine Drohungen beeinträchtigt zu werden. Er bereitet Mrs. Monk einige Nöte. Darum möchte ich Beistand leisten.«
Ein Ausdruck grässlicher Erbitterung stieg Squeaky ins Gesicht, seine Augenbrauen sträubten sich, und sein Mund wurde dünn wie ein Strich. »Sie haben genauso viele Chancen, Jericho Phillips zu fassen, wie den Kronprinzen zu heiraten, nämlich gar keine!«, zischte er mit unverhohlener Ungeduld. »Gehen Sie in Ihre Küche zurück, und tun Sie das, was Sie können!«
»Ah, dann werden Sie ihn fassen?«, fragte sie frostig.
Der Zorn in seinem Gesicht wich Unbehagen. Er hatte erwartet, sie würde zutiefst verletzt reagieren und die Fassung verlieren. Das war nicht der Fall, was ihm eine ebenso überraschende wie
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