Galgenfrist für einen Mörder: Roman
tun; sie wollte lediglich die Bettwäsche sortieren, eine Bestandsaufnahme der Vorräte machen und aufräumen. Als sie mit der Arbeit hier begonnen hatte, war es ihr darum gegangen, sich zu beschäftigen, etwas zu tun, das sie ausfüllte und in ihr keine Leere hinterließ, die sie bei den gesellschaftlichen Ereignissen in ihren Kreisen immer empfand. Unter ihren Bekannten konnte sie keine einzige Frau als Freundin bezeichnen. Sie selbst spürte, dass Menschen, die es im Leben schwer hatten, echte Wärme ausstrahlten, Vertrauen zu freundlichen Leuten hatten und auch Interesse daran, ein gemeinsames Ziel oder einen Traum zu verwirklichen. Nichts davon erlebte sie bei förmlichen Besuchen oder den Teepartys, Dinnern und Bällen, zu denen sie geladen wurde. Sogar die Kirchgänge waren ihr eher wie eine Pflichtübung vorgekommen, etwas, das man aus Gehorsam absolvierte, ohne echte Hoffnung oder Nächstenliebe zu spüren.
Diese spezielle wohltätige Institution hatte sie ausgewählt, weil niemand aus ihrem Bekanntenkreis bereit war, sich auf etwas derart Vulgäres und Einfaches einzulassen. Die anderen wollten zwar ehrenhaft wirken, hatten aber nicht die geringste Lust, alte Kleider anzuziehen, die Ärmel hochzukrempeln und tatsächlich zu arbeiten, wie Claudine das jetzt beim Ausräumen der Küchenschränke tat. Zu Hause hätte sie natürlich nicht im Traum daran gedacht, sich mit so etwas abzugeben; nicht einmal ihre Köchin hätte sich dazu herabgelassen. Ein Haushalt, der auf sich achtete, hatte für derlei Aufgaben eine Küchenmagd.
Tatsächlich jedoch empfand sie diese Arbeit als befriedigend, und während ihre Hände in der heißen Seifenlauge steckten, drehten sich ihre Gedanken um all die kleinen Zeichen von Besorgtheit und Kummer, die ihr in den letzten Tagen an Hester aufgefallen waren. Anscheinend ging sie Margaret Rathbone aus dem Weg, und die zeigte sich ebenfalls distanziert und gelegentlich sogar reizbar.
Claudine mochte und schätzte Margaret, allerdings nicht mit der gleichen Wärme, die sie Hester entgegenbrachte. Hester war spontaner, verletzlicher und weniger stolz. Als Bessie wenig später in die Küche trat und ankündigte, dass Hester eingetroffen war und sie ihr Tee zubereiten wollte, bat Claudine Bessie sofort, die Schränke für sie wieder einzuräumen, damit sie selbst den Tee kochen und Hester bringen konnte.
Als sie das Tablett auf dem Tisch im Büro abstellte, erkannte sie auf den ersten Blick, dass Hesters Sorgen keineswegs geringer geworden waren, sondern sie eher noch mehr belasteten. Um sich einen Vorwand zu verschaffen, länger bleiben zu können, schenkte sie Hester sorgfältig ein. Mehr als alles andere wollte sie ihr in diesem Moment helfen, doch das war nicht wirklich möglich, solange sie hinsichtlich der Probleme nicht sicher war. Es gab ja unendlich viele Möglichkeiten. Die erste, die ihr einfiel, war Geld. Geld, das entweder Hester persönlich oder der Klinik fehlte. Oder aber es lag eine ernste Krankheit oder Verletzung vor, bei der sie nicht wussten, wie sie sie behandeln sollten. Das war schon öfter vorgekommen und würde mit Sicherheit immer wieder passieren. Natürlich konnte sie auch Streitereien beim Personal nicht ausschließen, ebenso wenig Meinungsverschiedenheiten über die Führung der Klinik oder Ärger zu Hause. Doch am wahrscheinlichsten war wohl, dass Hester unter den Folgen des Strafprozesses litt, bei dem sie und Monk als Zeugen ausgesagt hatten. Sir Oliver und Margaret Rathbone hatten gesiegt, Hester und Monk hatten eine schmähliche Niederlage erlitten. Leider konnte sie Hester jetzt keine Fragen dazu stellen. Das würde nur ungeschickt und aufdringlich wirken.
»Ich glaube, Mrs. Rathbone … ich meine, Lady Rathbone … wird heute nicht kommen«, begann sie zögernd. Sie bemerkte, dass Hester erstarrte, um sich dann wieder zu entspannen. Behutsam sprach sie weiter. »Aber gestern hat sie die Finanzbücher studiert und gemeint, dass es uns recht gut geht.«
»Schön«, sagte Hester knapp. »Danke.«
Damit schien das Gespräch beendet. Doch Claudine ließ nicht so schnell locker. »Sie machte einen sehr besorgten Eindruck, Mrs. Monk. Glauben Sie, dass ihr irgendetwas fehlt?«
Hester blickte auf. Zum ersten Mal an diesem Tag schenkte sie Claudine ihre ganze Aufmerksamkeit. »Margaret? Mir ist nichts aufgefallen. Vielleicht hätte ich besser auf sie achten sollen. Ich frage mich, ob sie …« Sie unterbrach sich abrupt.
»… schwanger ist?«,
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