Galgenfrist für einen Mörder: Roman
modisch, elegant geschnitten, farbenprächtig und wegen des eng geschnürten Korsetts nicht wirklich bequem. Das Haar hatte sie ebenfalls ansprechend frisiert, wie es sich für eine Dame ihres Standes geziemte.
»Das tut mir leid«, entschuldigte sie sich. Auf eine Erklärung verzichtete sie. Das hätte ohnehin keinen Sinn gehabt – ihre Gründe interessierten ihn nicht.
»Wenn es dir leidtäte, würdest du nicht ständig aufs Neue dorthin gehen«, erwiderte er schroff. Er war ein Mann mit dickem Bauch und Hängebacken. Obwohl er nicht mehr der Jüngste war, hatte er noch dichtes Haar, das so gut wie keine grauen Sprenkel aufwies. Sie bemerkte seine höhnische Miene und fragte sich, wie sie ihn je hatte anziehend finden können. War vielleicht die Not die Mutter ihres Einverständnisses und auch ihrer Einbildungskraft gewesen?
»Du verbringst in diesem Haus dort viel zu viel Zeit«, knurrte er. »Das ist heute schon das dritte Mal in ebenso vielen Wochen, dass ich dich darauf aufmerksam machen muss. So geht das nicht weiter, Claudine. Ich habe ein Recht darauf, erwarten zu können, dass du bestimmte Pflichten erfüllst, doch dein Verhalten wird diesen in keinster Weise gerecht! Als meine Gattin hast du gesellschaftliche Aufgaben, die dir offenbar nicht bewusst sind. Richmond hat mir gesagt, du wärst letzten Montag nicht bei der Party seiner Frau gewesen. Hast du eine Erklärung dafür?« Es klang wie ein Vorwurf, nicht wie eine Frage.
»Sie diente dazu, Geld für wohltätige Zwecke in Afrika zu sammeln«, antwortete sie. »Ich habe für einen guten Zweck hierzulande gearbeitet.«
Jetzt explodierte er. »Mach dich nicht lächerlich! Du hast eine Dame von beträchtlichem Einfluss beleidigt, nur um für eine Bande von Huren, die du von der Straße aufgelesen hast, betteln zu gehen. Hast du denn vollkommen vergessen, wer du bist und was du dir schuldest? Wenn das so ist, lass mich dich daran erinnern, wer ich bin.«
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, Wallace«, sagte sie mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte. »Ich habe Jahre …« Fast wäre ihr »die besten Jahre meines Lebens« herausgerutscht, aber das waren sie wirklich nicht, sondern eher die schlimmsten. »Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, sämtliche Aufgaben zu erfüllen, die deine Karriere und dein Rang erforderten …«
»Und dein Rang, Claudine«, unterbrach er sie. »Ich denke, dass du das allzu oft vergisst.« Das war ein unverhüllter Vorwurf. Sein Gesicht lief rot an, und er trat einen Schritt dichter an sie heran.
Sie wich nicht zurück. Egal, wie nahe er ihr kam, sie würde sich weigern nachzugeben.
»Dieser Rang, den du so leichtnimmst«, sagte er und stach bei jedem Wort mit dem Zeigefinger in die Luft, »sichert dir das Dach über deinem Kopf, das Essen in deinem Magen und die Kleider an deinem Körper.«
»Danke, Wallace«, erwiderte sie tonlos. Dankbarkeit empfand sie freilich keineswegs. Wäre es denn wirklich so schlimm gewesen, wenn sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufgekommen wäre? Dann wäre sie niemandem etwas schuldig gewesen. Nein, schalt sie sich, das war ein müßiger Gedanke. Wer arbeitete, musste demjenigen schöntun, der ihn beschäftigte. Jeder war von irgendjemandem abhängig.
Er überhörte ihren Sarkasmus oder zog es vor, nicht darauf einzugehen. Er hatte ohnehin noch nie einen ausgeprägten Sinn für Ironie oder Humor gehabt. »Du wirst mir deinen Dank zeigen, indem du Mrs. Monk einen Brief schreibst und ihr mitteilst, dass du ihr bei ihrem Projekt nicht länger zur Seite stehen kannst. Und zwar gleich morgen.« Zufrieden mit sich selbst, holte er tief Luft. »Ich bin sicher, dass sie das nach ihrem unglückseligen Auftritt vor dem Strafgericht nicht im Geringsten überraschen wird.«
»Sie war eine Zeugin!«, protestierte Claudine, nur um an seiner Miene abzulesen, dass sie einen Fehler begangen hatte.
»Natürlich war sie eine Zeugin«, erklärte er angewidert. »Bei dem Leben, das sie führt, und den Leuten, mit denen sie verkehrt, begegnet sie zwangsläufig allen möglichen Verbrechern. Da ist es geradezu ein Wunder, dass sie für die Anklage aussagte, nicht für die Verteidigung. Bisher war ich extrem tolerant, Claudine, aber du hast die Grenzen des Erträglichen überschritten. Du wirst meinen Anweisungen folgen. Mehr habe ich diesbezüglich nicht zu sagen.«
Claudine konnte sich nicht erinnern, jemals so wütend oder verzweifelt gewesen zu sein, dass sie sich wehrte. Er wollte ihr
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