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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Absicht gewesen, so und nicht anders am Kai zu landen.
    Er erreichte die oberste Stufe. Gut zehn Meter vor ihm stürmte Phillips auf einen Stapel dunkler Holzfässer und die Winde dahinter zu. Die Schauermänner, die mit dem Entladen eines weiteren Leichters beschäftigt waren, achteten nicht auf ihn. Einige arbeiteten mit entblößtem Oberkörper in der Sonne, auf ihrer Haut glänzte der Schweiß.
    Monk rannte über die freie Fläche zu den Fässern. Dort zögerte er. Er wusste, dass Phillips unmittelbar dahinter lauern konnte, womöglich mit einem Stück Holz oder Rohr bewaffnet, im schlimmsten Fall mit einer scharfen Klinge. Monk entschied sich für den längeren Weg den Stapel entlang und bog um die weiter entfernte Ecke.
    Genau damit musste Phillips gerechnet haben. Er erklomm bereits einen Stapel von Ballen, der sich hinter den Fässern auftürmte. Ein Seemann, der täglich den Mast hinaufstieg, hätte nicht geschickter sein können. Nur ein Mal blickte er sich um, den Mund zu einem höhnischen Feixen aufgerissen, dann schwang er sich auf den obersten Ballen, wo er kurz innehielt, ehe er sich auf die andere Seite abrollte und sich fallen ließ.
    Monk hatte nur eine Wahl: hinterher oder ihn verlieren. Phillips konnte sein verfluchtes Bordellboot aufgeben, ein Zimmer in irgendeiner Absteige am Ufer nehmen und sich eine Weile verstecken, um vielleicht in einem halben Jahr wieder aufzutauchen. Gott allein mochte wissen, wie viele Jungen in dieser Zeit gequält, wenn nicht sogar getötet würden.
    Unbeholfen und deutlich langsamer als sein Gegner kletterte Monk die Ballen hinauf und war erleichtert, als er oben anlangte. Dann kroch er zur anderen Seite hinüber. Es ging tief hinunter, wohl an die fünf Meter. Phillips jagte mit beträchtlichem Vorsprung auf weitere Berge aus aufeinandergetürmten Weinfässern, Gewürzkisten und Tabakballen zu.
    Einen Sprung in die Tiefe wollte Monk nicht riskieren. Wenn er sich den Knöchel brach, würde er Phillips endgültig verlieren. Er ließ sich an der Seite der Ballen hinabgleiten und verkürzte damit die Fallhöhe. Unten angekommen, drehte er sich sofort um und spurtete zu den Weinfässern. Gerade als er sie erreichte, rannte Phillips über die Steinplatten dahinter auf ein gewaltiges Frachtschiff zu, das an der Kaimauer vor Anker lag. Seine Taue hingen über die Seitenwände, daneben ragte ein Kran empor, von dem soeben eine Ladung Holz herabgelassen wurde.
    Auf den unebenen Pflastersteinen fuhr ratternd ein von Pferden gezogener Wagen. Ein Trupp Hafenarbeiter näherte sich dem Kran. Zwei Müßiggänger stritten sich um etwas, das aussah wie ein Blatt Papier. Überall herrschte Lärm: die Rufe von Männern, das Kreischen der Möwen, das Rasseln von Ketten, das Knirschen von Holz, das unablässige Klatschen des Wassers gegen die Steinmauern. Dazu die ständige Bewegung der sich auf dem Wasser spiegelnden Sonne, grell und gleißend. Die riesigen Schiffe hoben und senkten sich mit den Wellen. Männer in grauer und brauner Kleidung mühten sich mit Dutzenden verschiedener Aufgaben ab. Alle möglichen Gerüche füllten die Luft – der dicke, saure Gestank des Flussschlamms, die strenge Sauberkeit von Salz, die schwere Süße von Rohzucker, die ätzenden Ausdünstungen von Tierhäuten, das faulige Aroma der an den Schiffsrümpfen klebenden Meerespflanzen und – etwas weiter vorn – der betörende Duft von Gewürzen.
    Monk setzte alles auf eine Karte. Seiner Einschätzung nach würde Phillips nicht versuchen, sich auf das Schiff zu retten. Wollte er an seiner Wand hochklettern, wäre er zu deutlich sichtbar. Nein, er würde in die andere Richtung flüchten und in den dunklen Gassen verschwinden.
    Oder würde er bluffen? Doppelt bluffen?
    Orme war jetzt dicht hinter Monk.
    Monk jagte auf einen Durchgang zwischen zwei Lagerhäusern zu. Orme sog scharf die Luft ein, dann folgte er seinem Vorgesetzten. Der dritte Polizist blieb am Kai zurück. Er hatte solche Verfolgungen oft genug mitgemacht und wusste, dass die Flüchtenden auf einem Umweg zurücklaufen konnten. Er würde einfach warten.
    Der Durchgang, keine zwei Meter breit, führte mehrere Stufen hinunter, ehe er unmittelbar nacheinander zwei enge Biegungen machte. Der beißende Gestank von Urin stieg Monk in die Nase. Rechts befand sich das Geschäft eines Schiffsausrüsters, dessen schmale Tür von zusammengerollten Tauen, Schiffslaternen, massiven Holznägeln und einem Eimer voller Bürsten zusätzlich verengt

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