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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auch Monk. Er konnte es Rathbone schlecht vorwerfen, wenn er aus Stolz und beruflicher Überheblichkeit einen Fall angenommen hatte, selbst einen so hässlichen wie die Sache Phillips, nur um zu beweisen, dass er ihn gewinnen konnte. Er lotete das Gesetz bis zu seinen Grenzen aus und maß ihm dabei einen höheren Wert bei als der Anständigkeit, die die oberste Richtschnur jedes Einzelnen sein sollte. Wäre sich nicht auch Monk in arroganter Selbstüberschätzung seiner Fähigkeiten so sicher gewesen, hätte er Phillips einfach im Wasser sterben lassen können, und alles andere wäre ihnen erspart geblieben. Es war nicht Barmherzigkeit, die ihn zu seinem Handeln veranlasst hatte, sondern die vermeintliche Gewissheit, dass er vor Gericht gewinnen und Durban bestätigen würde. Im Vergleich dazu war Rathbones Stolz geradezu bescheiden. Monk hatte nicht einmal erwogen, dass er verlieren könnte. Wie viele Menschen würden jetzt den Preis dafür mit Elend, Angst und vielleicht Blut bezahlen?
    Eine halbe Stunde später erschien Rathbone, in einen makellosen blassgrauen Anzug gekleidet und wie immer umgeben von einer Aura lässiger Eleganz. Soweit sich Monk erinnern konnte, hatte er sich nur ein Mal aus der Fassung bringen lassen, und das war erst vor wenigen Monaten in den neu gebauten Abwasserkanälen gewesen, als London ein verheerender Großbrand gedroht hatte.
    »Guten Morgen, Monk.« Rathbone ließ den Gruß wie eine Frage klingen. Anscheinend war er sich nicht schlüssig, wie er sich verhalten sollte. »Ein neuer Fall?«
    Monk erhob sich und folgte Rathbone in dessen Büro. Es war aufgeräumt und präsentierte dieselbe beiläufige Eleganz wie Rathbone selbst. Auf einem schmalen Seitentisch thronte eine Karaffe aus Kristallglas mit einem herrlich verzierten silbernen Stöpsel. Zwei wunderschöne Gemälde von Schiffen auf hoher See schmückten die eine Längswand, an der keine Bücherregale standen. Die Bilder waren klein und steckten in einem schweren Rahmen. Monk erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um Meisterwerke handelte. Aus ihnen sprachen Schlichtheit und zugleich eine Ausdruckskraft, die sie als außergewöhnlich auswiesen.
    Rathbone bemerkte Monks bewundernden Blick, enthielt sich aber eines Kommentars. »Was kann ich für Sie tun, Monk?«
    Monk hatte innerlich schon geprobt, was er sagen und wie er beginnen sollte, doch jetzt erschienen ihm die Worte gekünstelt, und er fürchtete, damit nur auf seine Angreifbarkeit und seine erlittene Niederlage hinzuweisen. Andererseits konnte er nicht ewig dastehen, ohne etwas zu sagen. Und jeder Versuch, ausgerechnet Rathbone zu täuschen, wäre zwecklos. Kurz, Aufrichtigkeit – wenigstens an der Oberfläche – war seine einzige Chance.
    »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er schließlich. »Es ist mir nicht gelungen, lückenlos zu beweisen, dass Phillips Figgis ermordet hat, und der Anwalt der Krone hat es versäumt, ihn wegen Verschleppung, Pornografie und Erpressung anzuklagen. Natürlich kann ich den ersten Vorwurf nicht neu vor Gericht bringen, egal, welche Beweise ich noch finde, aber die anderen Punkte stehen mir noch offen.«
    Ein düsteres Lächeln spielte um Rathbones Lippen. »Sie wollen mich doch hoffentlich nicht bitten, Ihnen dabei zur Seite zu stehen?«
    Monks Augen weiteten sich. »Wäre das gegen das Gesetz?«
    »Es wäre gegen den Geist des Gesetzes«, entgegnete Rathbone. »Zwar nicht illegal, aber ganz gewiss unethisch.«
    Monk erwiderte das Lächeln, wobei ihm bewusst war, dass es genauso düster, wenn nicht sogar sarkastisch wirken musste. »Wem gegenüber? Jericho Phillips oder dem Mann, der Sie bezahlt hat, damit Sie ihn verteidigen?«
    Rathbone wurde bleich. »Phillips ist verabscheuungswürdig. Und wenn Sie ihn zur Strecke bringen können, dann müssen Sie das tun. Das wäre ein Dienst an der Gesellschaft. Meine Rolle in den Mühlen des Gesetzes ist es, anzuklagen oder zu verteidigen, je nachdem, womit ich beauftragt werde, aber niemals, zu richten – weder Jericho Phillips noch sonst jemanden. Vor dem Gesetz sind wir gleich, Monk, das ist das Wesen jeder Rechtsprechung.«
    Er stand vor dem Kaminsims und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Besteht diese Gleichheit nicht, werden die Fundamente der Gerechtigkeit zerstört. Wenn wir einen Mann anklagen, haben wir normalerweise recht, aber nicht immer. Die Verteidigung ist dazu da, uns alle gegen die Augenblicke abzusichern, in welchen wir uns getäuscht haben.

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