Galgenfrist für einen Mörder: Roman
wirklich passiert?«, fragte Monk geduldig.
»Der kleine Dummkopf is’ ins Wasser gefallen und von Leichterschiffern rausgefischt worden. Die haben ihn dann bis nach Gravesend mitgenommen. Drei Tage später stand er wieder munter vor der Tür.« Sie grinste, als bereitete ihr die Erinnerung äußerste Befriedigung.
»Aber Mr. Durban suchte den Jungen.«
»Hab ich doch gesagt. Er war es, der ihn in Gravesend gefunden und zurückgebracht hat. Ansonsten hätten sie ihn genauso gut übers Meer mitnehmen können, damit er bei irgendwelchen Kannibalen im Kochtopf endet. Das hab ich auch immer meinen Jungs gepredigt: Tut, was ich euch sage, sonst werdet ihr noch verschleppt und von den Wilden gekocht und gegessen.«
Monk zuckte bei dieser Vorstellung innerlich zusammen.
Das Lächeln der Frau erstarb. Betrübt murmelte sie: »Es is’ wirklich schlimm und’ne Schande, dass er tot is’. Er war der Mann, der Phillips vielleicht hätte schnappen können. Hat sich von keinem veralbern lassen, er nich’. Und er war anständig und war sich für keine Mühe zu schade, wenn’s einem dreckig ging.«
Plötzlich richtete sich Scuff kerzengerade auf.
Monk schluckte. »Durban?«
»Natürlich Durban!«, fauchte sie und funkelte ihn böse an. »Von wem, glauben Sie, sprech ich die ganze Zeit? Vom Bürgermeister von London? Konnte bös mit einem umspringen, wenn man was ausgefressen hatte, aber zu Kranken, Armen oder Alten wie mir war er sanft wie ein Lamm. Der hätt’ mich nich’ draußen in der Sonne stehen lassen, mit dem Mund trocken wie Zunder. Er hätt’ mir’ne Tasse Tee besorgt und zwei Paar Schnürsenkel abgekauft.«
»Warum suchte er nach Tildas Sohn?« Den richtigen Moment, wann er sich der Frau erkenntlich zeigte, musste Monk noch abwarten. Sie sollte spüren, dass er derjenige war, der die Situation im Griff hatte.
»Weil er befürchtet hat, dass Phillips ihn vielleicht schon in den Klauen hat, Dummkopf!«, schnaubte sie verächtlich.
»War das denn wahrscheinlich?«
»Er wusste es! Tat, was er konnte, um den Scheißkerl zu schnappen, und dann is’ er selber umgebracht worden. Und jetzt taugen diese blinden Blödmänner von der Wasserpolizei zu nix anderem mehr, als Schmuggler, Taschendiebe und ein paar Pascher zu erwischen.« Mit Letzteren meinte sie Diebe, die auf Schiffen wertvolle Gegenstände stahlen und sie in speziellen Innentaschen ihrer Mäntel an Land schmuggelten, die eigens zu diesem Zweck eingenäht worden waren. Der Vorwurf verletzte Monk weniger, als er erwartet hatte, und er schoss einen durchdringenden Blick auf Scuff ab, um zu verhindern, dass der Junge ihn verteidigte.
»Demnach hatte er vor, Phillips zu schnappen?«, fragte Monk freundlich.
Sie musterte ihn von oben bis unten. »Wollen Sie’n Paar Schnürsenkel?«
Er kramte ein Zwei-Pence-Stück aus der Manteltasche und drückte es ihr in die Hand.
Sie reichte ihm die Schnürsenkel mit den Worten: »Für so was sind Sie nich’ Manns genug. Wenn Sie schon’ne alte Frau wie mich fragen müssen, wie das geht …«
Jetzt platzte Scuff doch noch der Kragen. »Pass bloß auf dein Mundwerk auf, du alte Schindmähre! Mr. Monk hat mehr Mörder aufgeknüpft, als du warme Mahlzeiten gegessen hast und je kriegen wirst! Mr. Durban hat Phillips auch nich’ geschnappt, und du tust nix als dumm quatschen! Wo ist denn sein Boot, hä? Wer geht da ein und aus? Wer verbrennt Jungs die Haut, wenn sie nich’ kuschen? Wer bringt sie um und warum? Weißt du überhaupt, wovon du redest, du altes Klappergestell?«
Ihre Hand schoss vor, und schon setzte es einen harten Schlag hinter das Ohr. Monk zuckte bei dem Knall unwillkürlich zusammen.
Scuff stieß ein Heulen aus.
»Wozu red ich überhaupt noch mit euch?«, fauchte die alte Frau wütend. »Ihr würdet sowieso nix unternehmen! Ihr würdet nix riskieren, um die kleinen Scheißer zu schützen! Da war Mr. Durban schon von’nem anderen Kaliber.«
»Riskieren?«, fragte Monk, angestrengt um einen ruhigen Ton bemüht, der keine Hoffnung verriet. Sie durfte nicht spüren, wie wichtig ihm das war, sonst würde sie es sofort zu ihrem Vorteil ausnutzen. Er versuchte sogar, etwas Skepsis anklingen zu lassen.
Sie war immer noch wütend. Wie tief ihre Verachtung war, verrieten die ausgeprägten Falten um ihre Augen und Mundwinkel. »Er hat Melcher geschnappt, oder etwa nich’?« Mit einem zahnlosen Feixen baute sie sich vor ihm auf. »Er konnte schon ein ganz schön raffiniertes Aas sein, wenn er wollte.
Weitere Kostenlose Bücher