Galgenfrist für einen Mörder: Roman
bisweilen für eine innere Durchlüftung.«
Sie beschloss, es dabei bewenden zu lassen und sich mit seinen einigermaßen beruhigend klingenden Worten zufriedenzugeben, statt nach Einzelheiten zu fragen. »Das freut mich. Möchtest du eine Tasse Tee?« Sie sagte das aus reiner Höflichkeit, nur damit keine Stille herrschte. Eigentlich wollte sie nicht, dass er darauf einging, und das merkte er ihrem Ton an.
»Nein, danke. Es ist schon ziemlich spät. Ich gehe gleich ins Bett.«
Sie akzeptierte das mit einem dünnen Lächeln. »Ich auch. Gute Nacht.«
Während Monk voller Eifer – und mit Scuffs Hilfe – die Suche nach Beweisen für die dunkle Seite von Phillips’ Gewerbe fortsetzte, brach Hester erneut auf, um mehr über Durbans Vergangenheit zu erfahren, einschließlich seiner Familie, sofern er eine gehabt hatte.
Sie musste das allein schon deshalb wissen, weil sie Angst hatte, die Ergebnisse von Monks Nachforschungen könnten ihn persönlich belasten und damit indirekt die gesamte Wasserpolizei treffen, was bei ihm noch tiefere Wunden aufreißen würde.
Sie wusste, was Zusammenhalt innerhalb einer Truppe bedeutete und dass dieser in lebensgefährlichen Situationen eine absolute Notwendigkeit darstellte. Vorgesetzten war selten der Luxus vergönnt, in aller Ruhe Fragen zu stellen oder zu beantworten, und für Erklärungen reichte ihre Zeit nicht. Sie erwarteten Gehorsam, ohne den eine Armee nicht handlungsfähig wäre. Ein Offizier, der es nicht vermochte, sei es aufgrund seiner Tüchtigkeit, sei es aufgrund seines Charakters, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, hatte letztlich versagt.
Hester ging die Gray’s Inn Road in Richtung High Holborn hinunter. Die Straßen waren an diesem heißen Tag staubig, und ihre Röcke hatten längst einen schmutzigen Saum. An ihr rumpelten polternd die Kutschen und Lastwagen vorbei. In den Messingachsen und im polierten Geschirr der Pferde glitzerte die Sonne. Vier mächtige Kaltblüter, die vor einen Brauereikarren gespannt waren, trotteten gemächlich dahin. In der Gegenrichtung ratterten Hansoms auf sie zu, die Pferde mit klappernden Hufen, während die Peitschen über den Ohren der Tiere durch die Luft zischten. Ein offener Landauer bot eine Ahnung von sommerlichem Treiben, zierliche Sonnenschirme, die die Haut schützten, flogen vorbei, dazu perlendes Gelächter, die helle Seide eines sich bauschenden Ärmels und im Wind flatternde Samtbänder.
Hester dachte an den bedingungslosen Zusammenhalt in der Armee, an blinden Gehorsam. Und an Offiziere, die das in sie gesetzte Vertrauen nicht rechtfertigen konnten, und zwar nicht deshalb, weil sie schlechte Menschen waren, sondern weil sie in einer Hierarchie feststeckten, in der es sich fast zwangsläufig ergab, dass der individuelle Wille einem kollektiven Ehrgefühl untergeordnet wurde, ein schreckliches Opfer gerade für die Gebildeteren oder die Andersdenkenden. Die Alternative dazu war vielleicht Chaos. Hester hatte durchaus Verständnis, doch sie hatte auch den Tod gesehen, und er hatte sie fassungslos gemacht, ihr Herz und ihre Seele für immer verwundet.
Sie war auf den Hügeln über Sewastopol gewesen und hatte beobachtet, wie eine ganze Brigade ins Feuer russischer Gewehre gelaufen und abgeschlachtet worden war. Danach hatte sie versucht, zumindest ein paar von den wenigen noch lebenden Verstümmelten zu retten. Die Sinnlosigkeit des Tötens quälte sie immer noch. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, dass sie irgendjemandem blind gehorchen würde, hatte sie doch den Preis dafür zu spüren bekommen.
Und was war der Preis der Freiheit von Treue und Gehorsam? Die Einsamkeit dessen, der niemandem traute, ständig zauderte und den Verstand der Leidenschaft voranstellte? Letztlich war dieser Preis womöglich noch höher, und Hester wollte nicht, dass Monk ihn für einen anderen zahlte. Wenn sie schnell genug war, gelang es ihr vielleicht noch, die Wucht des Schlages, der Monk zwangsläufig treffen würde, abzumildern und selbst einen Teil davon auf sich zu nehmen.
Am Ende der Gray’s Inn Road bog sie rechts ab in die High Holborn und hielt sich auf der linken Seite des Gehwegs. Sobald sie eine Lücke im Verkehr erspähte, überquerte sie die Straße und bog dann in die Castle Street ein. Sie wusste genau, wohin sie wollte und wen sie suchte.
Dennoch dauerte es eine halbe Stunde, bis sie diesen Mann sprechen konnte. Allerdings freute sie der Grund für die Verzögerung. Wie sie erfuhr, hatte er
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