Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Er hatte sich mit einiger Leichtigkeit überrumpeln lassen, und das lag daran, dass er sich irgendwie schuldig fühlte, ohne zu wissen, weswegen eigentlich.
»Ich habe zugesagt«, erklärte er. »Natürlich, sonst hätte ich ja kein Problem.«
»Wirklich nicht? Aber du hättest dann sicher einen Freund abgewiesen, dem du etwas schuldig warst. Oder in dessen Schuld du dich fühltest. Was war eigentlich diesem Angeklagten zur Last gelegt worden?«
»Kindestötung.«
»Vorsätzliche?«
»Unbedingt. Davor folterte er den Jungen.«
»Angeblich?«
»Ich bin mir fast sicher, dass er das wirklich getan hat. Eigentlich besteht heute für mich kein Zweifel daran.«
»Und zu dem Zeitpunkt, als du den Fall übernahmst?« Henrys Ton verriet nicht die geringste Wertung.
Oliver zögerte. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie er sich gefühlt hatte, als Ballinger mit seinem Anliegen an ihn herangetreten war und er sich die Fakten vor Augen geführt hatte.
Henry wartete schweigend.
»Meine Argumentation war rein formaler Natur«, räumte Oliver kleinlaut ein. »Ich ging davon aus, dass er höchstwahrscheinlich schuldig ist, die Justiz aber perfekt zu sein hat und es ihre Aufgabe ist, seine Schuld einwandfrei zu beweisen, bevor sie ihn verurteilt. Und ich habe eine auf Emotionen beruhende Rache an ihm als die eigentliche Triebfeder hinter diesem Fall gewittert. Also habe ich die Verteidigung übernommen, um ein … gewisses Gleichgewicht zu schaffen.«
»Und vielleicht auch aus einem gewissen Hochmut, weil du das Geschick hast, trotz allem zu siegen?«, fragte Henry sanft. »Und auch um ein bisschen vor dem Mann zu prahlen, der dich darum gebeten hat? Wolltest du womöglich ihn oder jemand anders beeindrucken, der die Einzelheiten noch erfahren wird?«
»Du kennst den Fall?« Oliver kam sich auf einmal lächerlich vor, als hätte er geschauspielert und wäre dabei ertappt worden.
Henry lächelte. »Überhaupt nicht, aber ich kenne dich und deine Schwächen. Wenn du deswegen keine Schuldgefühle hättest, wärst du jetzt nicht so besorgt. Ich darf annehmen, dass du gewonnen hast? Du versuchst ja immer dein Bestes. Du kannst gar nicht anders. Zu Recht zu verlieren würde dich nicht stören, wenn der Mann schuldig wäre. Zu Unrecht siegen, das ist etwas ganz anderes.«
»Das Urteil war kein Unrecht!«, verteidigte sich Oliver sofort. Und im selben Atemzug merkte er, dass er zu schnell gesprochen hatte. »Zumindest ist es nicht mit unlauteren Mitteln zustande gekommen«, korrigierte er sich. »Die Strafverfolger haben schlampig gearbeitet und ließen sich zu sehr von ihren Emotionen leiten, anstatt sich all der Fakten zu vergewissern.«
»Eine Schwäche, die du erkannt und ausgenutzt hast«, führte Henry den Gedanken weiter. »Warum bekümmert dich das?«
Oliver blickte auf den seit langem vertrauten Teppich, dessen rote und blaue Muster im letzten durch die offene Terrassentür hereinfallenden Sonnenlicht wie Buntglasfenster aufleuchteten. Das Geißblattaroma war jetzt intensiver als das des Weins.
Erneut wartete Henry.
Das Schweigen wurde tiefer.Vögel auf demWeg zu ihrer Schlafstätte flatterten auf und schwirrten durch den sich verdunkelnden Himmel.
»Ich kannte einige der Hauptbelastungszeugen so gut, dass ich mein Wissen zu ihrem Nachteil nutzen konnte«, gestand Oliver endlich.
»Sodass du ihre Freundschaft verloren hast?«, fragte Henry sanft. »Konnten sie die Notwendigkeit der Verteidigung des Mannes nach deinem besten Wissen und Können nicht nachvollziehen? Du warst sein Anwalt, nicht sein Richter.«
Oliver sah überrascht auf. Die Frage traf den Kern der Wahrheit besser, als ihm lieb war, denn jetzt musste er aufrichtig antworten oder bewusst lügen. Und seinen Vater anzulügen kam einfach nicht infrage. Das würde die Zerstörung der Grundlagen seiner eigenen Identität bedeuten, seinen Glauben an das Gute in seinen unverrückbar gültigen Prinzipien. »Doch, das haben alle beide begriffen. Aber bis heute ist ihnen nicht klar geworden, warum ich diesen Fall ausgewählt habe, obwohl ich das wirklich nicht nötig hatte und obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass es jetzt nicht mehr möglich ist, den Mann ein zweites Mal anzuklagen, und er an den Fluss zurückkehren und sein widerwärtiges Gewerbe fortsetzen wird. Um ehrlich zu sein, ich gehe davon aus, dass er wieder morden wird. Ich hätte die Verteidigung jemandem überlassen können, der nicht im Genuss meines privilegierten Wissens war. Er hätte
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