Galgenfrist für einen Mörder: Roman
wobei er immer wieder seine Feder in ein Tintenfass tauchte. Nach wenigen Augenblicken stand er erneut vor ihr und reichte ihr den meisterhaft mit Druckbuchstaben beschrifteten Bogen. Voller Stolz und auch Spannung auf ihr Urteil über seine Leistung beobachtete er sie.
Sie las die Namen und Adressen vor und sah zu ihm auf. »Vielen Dank!«, rief sie mit aufrichtiger Bewunderung. »Jetzt weiß ich, wo ich es erst gar nicht zu versuchen brauche, falls ich je eine Stelle als Schreiberin suche. Mit Ihrer Kunst werde ich mich nie messen können. Sie zu treffen hat mir Licht in einen ansonsten dunklen Tag gebracht. Ich ziehe gleich los, diese Männer zu suchen. Vielen Dank!«
Er blinzelte ein wenig, überwältigt von ihrem Kompliment. Schließlich erwiderte er einfach ihr Lächeln.
Es kostete sie den Rest des Tages und die Hälfte des folgenden, bis sie die Bruchstücke und Erinnerungsfetzen der Männer in Erfahrung gebracht hatte, die Fenneman ihr genannt hatte. Aber immerhin erhielt sie auf diese Weise ein Bild von Durbans Jugend. Offenbar war er in Essex geboren. Sein Vater, John Durban, war Direktor einer dortigen Knabenschule und seine Mutter war eine glückliche und zufriedene Hausfrau und Helferin im Schulhaus gewesen – eine große Familie: mehrere Schwestern und mindestens ein Bruder, der später als Kapitän bei der Handelsflotte in die Südsee und zur Küste von Afrika segelte. Hinweise auf eine dunkle Seite an Durban gab es nicht, und seine Führung als Offizier galt als vorbildlich.
Sein Geburtsort lag nur ein paar Meilen unterhalb Londons im Mündungsdelta der Themse. Da es gerade erst zwölf Uhr Mittag geschlagen hatte, konnte Hester bis spätestens zwei dort sein, einen Blick auf das Schulhaus und die Kirche werfen, das Gemeinderegister einsehen und noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurückkehren. Fast spürte sie Gewissensbisse, als ihr eine innere Stimme zuflüsterte, sie solle nichts bedenkenlos glauben. Was sie gehört hatte, war Durbans eigene Darstellung. Und nie hätte sie an seinem Wort gezweifelt, bevor der Prozess und Rathbones Fragen sie aufgeschreckt hatten.
Aber das schmale, intelligente Gesicht Oliver Rathbones drängte sich ihr immer wieder auf, und mit ihm die Notwendigkeit, zu prüfen und zu beweisen, um in der Lage zu sein, jede Frage mit absoluter Sicherheit beantworten zu können.
So fuhr sie in einem voll besetzten Eisenbahnwaggon zu dem am nächsten bei dem Dorf gelegenen Bahnhof, um von dort die letzten zwei Meilen zu Fuß zurückzulegen, begleitet von Wind, Sonnenschein und dem funkelnden Wasser des Deltas im Süden. Sie besuchte die Schule und die Kirche, wo sie in das Register Einsicht nahm. Über irgendwelche Durbans waren keinerlei Aufzeichnungen vorhanden – keine Geburten, keine Todesfälle, keine Hochzeiten. Auf der großen Tafel im Schulhaus waren sämtliche Direktoren von 1832 bis zum heutigen Tag aufgelistet. Ein Durban war nicht darunter.
Hester fühlte sich unwohl und verwirrt und hatte große Angst davor, Monk seine Illusionen rauben zu müssen. Auf dem Rückweg zum Bahnhof bekam sie dann auch schmerzhaft zu spüren, wie hart die Straße war. Ihre Füße fühlten sich immer heißer an, und es bildeten sich Blasen. Das Licht über dem Wasser hatte nichts Schönes mehr an sich, und sie achtete nicht auf die Segel der nahenden oder sich entfernenden Bargen, denn der Schmerz angesichts der Lügen und der Desillusionierung wog so viel schwerer. Unablässig zuckte ihr dieselbe Frage durch den Sinn: Warum? Was verbarg sich hinter diesen Lügen?
Am nächsten Morgen traf sie mit immer noch schmerzenden Füßen in der Klinik in der Portpool Lane ein und stellte zu ihrer unendlichen Erleichterung fest, dass Margaret nicht da war. Vielleicht empfand sie ihre Begegnungen inzwischen als ebenso unerquicklich wie Hester.
Hester hatte sämtliche Patienten besucht, kleine Wunden genäht und eine ausgekugelte Schulter wieder eingerenkt, als Claudine zu ihr ins Büro stürmte und hinter sich die Tür schloss. Ihre Augen funkelten, und ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie wartete nicht ab, bis Hester etwas fragte.
»Gestern Abend ist eine Neue reingekommen«, rief sie in dringlichem Ton. »Sie hatte eine Stichwunde und hat heftig geblutet …«
Hester schreckte hoch. »Davon haben Sie mir ja gar nichts gesagt! Warum haben Sie mich nicht zu ihr geführt? Ist sie …?«
»Ihr geht es gut«, versicherte ihr Claudine hastig. »Ihr geht es nicht annähernd so schlecht,
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