Galgeninsel
bestätigt?«, fragte er etwas resigniert.
»Bin ja schon dabei. Augenblick noch«, antwortete Lydia Naber genervt. Zeige- und Mittelfinger folgten konzentriert den viel zu kleinen Typografien. Dabei murmelte sie leise vor sich hin. So leise, dass Schielin nichts verstehen konnte. Das machte neugierig. Er wartete geduldig und endlich richtete sie sich abrupt auf. »Passt! Genau wie wir vermutet haben. Die Abschürfungen an den Handgelenken sind zwar von den Fesseln verursacht worden. Allerdings war keine Gewebeeinblutung feststellbar. Die Haut wurde durch die Fesselung abgeschabt.«
Schielin nickte zufrieden. »Kandras ist also erst dann gefesselt worden, als er bereits bewusstlos geschlagen war. Würde er versucht haben sich der Fesseln zu entledigen, hätte er damit Hämatome erzeugt – Gewebeeinblutungen.«
»Rrrrichtig«, sekundierte Lydia.
»Und wenn jemand einen anderen bewusstlos schlägt, fesselt und schließlich ins Wasser befördert, dann haben wir die gute alte …«
»Tötungsabsicht«, vervollständigte Lydia.
»Und weil das ganze ziemlich hinterlistig und gemein ist, wird es auch ein guter Anwalt schwer haben, da vom Mordvorwurf wegzukommen«, ergänzte Schielin.
»Was hat das Notizbuch da ergeben?«, fragte Lydia.
Schielin stöhnte. »Eine einzige Enttäuschung.«
»Wie machen wir jetzt weiter?«, wollte sie wissen.
Er beugte sich nach vorne und stützte beide Ellbogen am Schreibtisch auf. »Ich werde mir mal den Uferbereich von der Seebrücke aus bis zum Eichwaldbad vornehmen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich da was findet, aber … wer weiß.«
»Pure Verzweiflung, oder?«, schnippte Lydia über den Schreibtisch.
»Ein besserer Vorschlag?«
Sie blies geräuschvoll Luft durch ihre Lippen. »Nee. Auch nicht. Was mich aber beschäftigt … wo hat man das Auto verschwinden lassen. Bei der Leiche war ja nichts zu finden, keine Schlüssel und so. Die Handyortung ergab weniger als nichts. Das Ding ist ausgeschaltet. Auch die GPS-Ortung vom Porsche hat bisher nichts ergeben. Weg, verschwunden, nicht mehr existent. Das ist schon frustrierend, weißt du, wenn man so gar nichts hat. Ein Tatzeitraum von mehreren Tagen, der jede Alibibefragung zunichte macht; keine objektiven Spuren außer Bodenseewasser und Algen. Dazu noch nicht mal das, was man Familienangehörige nennen könnte.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Ist doch bitter, Mensch, wenn man von seinem Bankdirektor vermisst gemeldet wird. Stell dir das mal vor. Nichts und niemand sonst, dem man etwas bedeutet oder wert ist. Keine Freunde. Nichts. Schrecklich! Da werden einem die Nervtöter daheim ja richtig lieb, oder?«
Schielin lächelte. Er hatte ähnliche Gedanken und war auf eigentümliche Weise von dem berührt, was Kandras’ Lebensumstände betraf. Ein Leben angefüllt mit solcher Leere war ihm bisher noch nicht begegnet. Und es war gerade das Vorhandensein materieller Möglichkeiten in Verbindung mit der sozialen Verarmung, die die Situation in so greller Weise ansichtig werden ließ. Und dann bekam er die Szenen aus der Jugend nicht aus dem Kopf. Er sah immer wieder zwei, drei Szenen. Diesen jungen rüden Burschen, und fragte sich, worin die Gründe lagen, die sein Leben genau so haben werden lassen. Eigentlich sah er damit auf sein eigenes Leben zurück, und konnte irgendwie nicht zufrieden werden. Er verdrängte diese Gedanken und widmete sich wieder Lydia.
»Das mit dem Auto ist schon seltsam. Noch mehr nervt mich aber dieses Elend mit dem Todeszeitpunkt«, sagte er mit einem Unterton von Unmut. »Laut Bericht grenzen sie den Todeszeitpunkt auf das Wochenende ein. Von Eingrenzen braucht man da gar nicht reden. Glaubst du, dass einer wie Kandras von Mittwochabend bis zum Wochenende spurlos verschwunden ist und dann als potenzielles Opfer tot im See landet?«
Lydia schüttelte den Kopf und Schielin fuhr fort.
»Also. Untersuchungen hin oder her. Ich denke wir müssen das Ergebnis ein wenig flexibler deuten. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass er schon Dienstag oder Mittwoch zu Tode gekommen ist, denn das ist der Zeitpunkt, ab dem er wie vom Erdboden verschwunden war. Wie siehst du das?«
Sie wog nachdenklich den Kopf. »Das ist durchaus möglich. Aber die Wasserliegezeit ist nun mal mit wissenschaftlichen Methoden ermittelt worden …«
»Ja schon. Aber es ist nur eine Annahme, denn die wissen auch nicht, welche Wassertemperaturen genau herrschten und in welcher Tiefe die Leiche getrieben
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