Galgeninsel
gerade entgegenkam, war hier, um sich Fett absaugen zu lassen.
Er stieß an die Ufermauer. Alter, grauer Stein. Links war zwar ein Durchgang. Eine Treppe führte nach unten auf einen Strand mit groben Kiessteinen. Ein ungeeigneter Ort, denn da unten hatte man keine Kontrolle über das, was über einem geschah. Er folgte dem Uferweg nach rechts, bis zu einem wunderschönen runden Turm mit Kegeldach. Wohlproportioniert war er in ein Winkelstück der Ufermauer gesetzt. Kafelnikov schlenderte weiter und hielt an einer Skulptur, die ihn verharren ließ. Zwei glatzköpfige Männer mit athletischen Körpern standen einander gebeugt gegenüber. In ihrem Nacken trugen sie riesige Kugeln, was ihren Gestalten etwas jammervolles verlieh und insgesamt eine Aura strenger Kargheit verbreitete. Ihre Körper und haarlosen Schädel hätten ein Abbild von ihm sein können, so dass er sich beunruhigt umsah. Das hier war kein guter Ort für sein Vorhaben. Er musste weg von der Insel.
Die Villa
Anna Kandras saß auf der Couch. Auf ihren Knien lag ein Buch über Jean Arp. Nora saß hinten am Klavier und übte eines der lyrischen Stücke von Edvard Grieg. Anna Kandras hatte weder Augen für Arps Skulpturen noch Ohren für das Spiel ihrer Tochter. Sie folgte nicht den sanften Tönen, gewahrte nicht die Perfektion und Schönheit ihres Spiels.
Sie hatte die Augen geschlossen und dachte nach. Eine große Unruhe hatte ihr Inneres ergriffen, was ihr rein äußerlich nicht anzumerken war. Lange hatte sie gebraucht zu verstehen, dass die kühle Ausstrahlung, die sie vermittelte, auch einen Vorteil bedeutete. Der bestand darin, dass ihrem Gegenüber ihr eigentlicher Gemütszustand verborgen blieb. Wenigstens etwas Gutes, dachte sie, und lächelte bitter.
Sie versuchte sich zu erinnern, jede Kleinigkeit zu durchdenken – die letzten Tage, letzten Wochen. Doch nichts ergab einen Sinn. Dieser Schielin machte sie nervös. Er war keineswegs so unbeholfen oder naiv, wie er es sie glauben lassen wollte. Er würde wieder kommen und andere Fragen stellen. Fragen womöglich, deren Beantwortung sie ernsthaft in Schwierigkeiten bringen konnte. Dazu kam die Unkenntnis darüber, was er bereits wusste. Sie biss auf ihre Unterlippe, so dass es wehtat. Gerade jetzt. Jetzt, so kurz vor dem Ziel. Alle ihre Pläne waren durchkreuzt. Wie sie die Dinge auch drehte und wendete – es blieb keine Zeit mehr zu warten. Sie musste es nun anpacken. Viel früher als sie es vorgehabt hatte. Der Gedanke, ihm gegenüber zu treten, verursachte ihr Übelkeit, obwohl sie das Leben der letzten Jahre auf diesen Augenblick ausgerichtet hatte. Ihr Bestreben, die Dinge zu ordnen, unter Kontrolle zu halten, den Zeitpunkt des Handelns selbst zu bestimmen, war nun hinfällig. Das Geschehene entwickelte eine Dynamik, deren Kraft sie sich nicht entgegenstellen konnte. Sie musste jetzt einen Anfang machen.
Nora erschrak, als ihre Mutter abrupt aufstand, und unterbrach Le Menuett de Grand-Mère. Anna Kandras entschuldigte sich mit einer sanften Berührung im Vorübergehen. »Tut mir Leid, Liebes, aber ich muss noch mal weg. Es ist so schade, denn du spielst so wunderbar. Du wirst eine große Künstlerin werden«, und dann fügte sie hinzu, »die Begabung …. die hast du von Deinem Vater«. Sie versuchte ein kameradschaftliches Lächeln, »und den Ehrgeiz … von mir.«
Nora behielt ihre Haltung bei, die Finger auf den Tasten ruhend, und blickte ihr ernst nach.
Eigentlich verrückt, dachte Anna Kandras. Ich weiß ja gar nicht, ob er zu Hause ist. Sie stellte das Auto unter dem Blätterdach einer uralten Ulme ab und ging zögernd die paar Schritte zum schmiedeeisernen Tor. Zaghaft drückte sie die Klinke und tatsächlich ließ sich die Tür öffnen. Sie verzog die Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Die gleiche Arroganz wie früher – er schließt nicht einmal ab.
In der Mitte eines Parks aus Eichen, Buchen und Ulmen stand die Villa. Zum Ufer waren es nur gut dreißig Meter. Sie sah sich um. Es hätte ein Paradies sein können, und doch waren ihre Erinnerungen an diesen Ort einzig mit einer traurigen Assoziation verbunden – Einsamkeit. Sie hörte auf das Geräusch, das ihre Schuhe im Kiesbett hervorriefen. Vom Haus her war nichts zu hören. Der Wind ließ die Blätter der Bäume über ihr rauschen, Vögel sangen und der Wellenschlag des Sees gab einen arhythmischen Takt hinzu. Als sie das Haus erreicht hatte und der Blick zur Ufermauer hin frei war, sah sie ihn. Ein wenig
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