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Galgeninsel

Galgeninsel

Titel: Galgeninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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erschrak sie. Er stand an seinem Platz, direkt auf den Granitblöcken der Ufereinfassung und sah hinüber zum schweizerischen Ufer, das heute nur schemenhaft als dunkelgrauer Fleck zu erkennen war. Sie hatte dieses Bild oft gesehen, doch heute stand da eine leicht gekrümmte, aber immer noch sportliche Gestalt. Jedoch war diesem Körper, bedeckt von weiten grauen Hosen und einem dunkelgrünen Poloshirt, das Alter anzusehen. Der Anblick erschrak sie und war doch Trost zugleich. Sie hätte fast lachen mögen, als ihr klar wurde: Er wird alt! Ja, er wird alt! Diese noch zaghafte Krümmung des Rückens deutete es an, machte einen Blick in die Zukunft möglich. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie auf ihn zuging. Er würde sie nicht hören können, denn der Kiesweg endete am Haus und von da an dämpfte dichter Rasen ihre Schritte. Ein paar Meter von ihm entfernt blieb sie stehen und sagte nach einem kurzen Augenblick, in welchem sie ihre Stimme zurechtlegte: »Kandras ist tot.«
    Er zuckte nicht, zeigte auch sonst keine Regung. Das ärgerte sie. Gern hätte sie sein Erschrecken gesehen. Trotz gekrümmten Rückens hatte ihr Vater also nichts von seiner Arroganz und Überheblichkeit eingebüßt. Spielte noch immer die alten Spielchen. Er wartete, drehte sich nicht um, sondern sagte ein gespielt überrascht klingendes »Ja?«
    Dann fragte er: »Ist Nora dabei?«
    Zunächst war Anna Kandras von seiner Gleichgültigkeit beeindruckt. Doch jetzt lachte sie laut und voller Verachtung. Nora war aus seinem Leben verschwunden. Er wusste es nur noch nicht. Sie fand sich wieder und war froh, dass er sein Gesicht immer noch dem See zuwandte. »Es geht nicht um Nora. Kandras ist tot. Er wurde ermordet.«
    Jetzt erst drehte er sich langsam um. »Ermordet?«, fragte er gedehnt und ungläubig.
    Sie nickte.
    »Von einer seiner Huren?«, stellte er verächtlich fest.
    »Damit kennst du dich ja bestens aus«, erwiderte sie böse.
    Er neigte den Kopf und antwortete mit Schweigen.
    »Man hat ihn aus dem See gefischt. Die Arme waren auf dem Rücken gefesselt. Ich musste ihn identifizieren.«
    Kahlenberg schürzte die Lippen. »Ich hätte mein Enkelkind gerne einmal wieder gesehen. Sie wird mich vermissen.«
    Anna Kandras antwortete ohne Erregung. »Wer immer dich vermissen mag. Ich vermisse dich nicht, und Nora vermisst dich schon gar nicht.«
    Sie wunderte sich über die Härte, die sie ihren Worten verleihen konnte. Er stand da und sah sie prüfend an. So vergingen einige Sekunden, in denen keiner von beiden seinem Körper eine Bewegung gestattete, geschweige denn etwas sagte. Ihre Blicke allein machten deutlich, wie tief die Kluft zwischen ihnen war. Es gab kein einander mehr.
    Es war Ottmar Kahlenberg, der wieder das Wort ergriff. »Was willst du dann hier? Kandras interessiert mich nicht.«
    Sie lachte. »Das war aber auch mal anders, wenn ich mich recht entsinne.«
    Er sagte mit einem Ausdruck von Belanglosigkeit: »Ja, damals war er von Bedeutung für mich«, und fügte wie nebenbei an, »aus geschäftlichen Gründen.«
    Eine Erschütterung durchlief ihren Körper, kaum dass er die letzten Worte gesprochen hatte. Der Oberkörper deutete eine schnelle, heftige Bewegung nach vorne hin an und dieses zu einer Bewegung gewordene Denken einer Attacke setzte sich in ihrem rechten Arm fort. Ottmar Kahlenberg wich instinktiv zurück und benötigte einige Anstrengung, sein Erschrecken verborgen zu halten. Damit hatte er nicht gerechnet. Nach außen hin war es kaum merklich doch er war zutiefst verunsichert, ja verwundet. Während er sie schweigend ansah, überlegte er, wann er zuletzt in der Situation eines Angegriffenen gewesen war. Ausgerechnet er. Er, der immer auf der genau anderen Seite stand.
    »Ich … habe ihn geheiratet!«, zischte sie wütend und nahm gleichzeitig die Spannung aus ihren Muskeln.
    Er zog es vor nichts zu entgegnen. Die Situation war ihm fremd.
    Anna Kandras hingegen fühlte Sicherheit und Stärke. Sie stand mit beiden Füßen fest da, fast so verwurzelt wie die alten Buchen um sie herum. Aus diesem Bewusstsein sog sie Kraft. Eine Kraft, die umso stärker wirkte, als sie erkannte, dass sie sich nicht aus der Schwäche ihres Gegenübers speiste, sondern aus ihr selbst kam.
    »Du wirst alt«, sagte sie abschätzig.
    Es traf ihn härter, als wenn sie ihn geschlagen hätte. Sie rührte damit seine eigenen Ahnungen und Ängste an. Er spürte es selbst, jeden Tag mehr, wie sein Körper alt wurde. Und Anna hatte keine

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