Galgentochter
und schwieg still. Hier war sie beinahe ertränkt worden. Und keiner hatte ihr geholfen. Niemand.
«Also: Wer stinkt?»
«Ich bin es, die stinkt», flüsterte das Mädchen. Die Worte quollen in seinem Mund auf, verstopften die Kehle, dass es glaubte zu ersticken.
«So ist es!» Die Mutter stand da, das Mieder nachlässig geschnürt, das lange Haar strähnig, die Augen noch verschmiert vom Rußstift, den sie am Vorabend aufgetragen hatte, die Haut fleckig, der Mund mit den schwarzen Zahnstümpfen halb offen. Nur in den Augen der Mutter erblickte das Mädchen Leben. Die Augen der Mutter sahen voller Befriedigung auf ihre einzige Tochter.
«Bist ein Hurenmädchen und wirst es immer bleiben.» Die Stimme der Mutter war ohne Schärfe, beinahe schon weich, müde und gleichgültig. Sie hob die Hand, wischte sich über das Gesicht, als wolle sie die Müdigkeit fortwischen, dann wandte sie sich um und setzte sich zu den anderen Frauen an den Tisch. Die hatten bisher geschwiegen. Jetzt aber begannen sie zu reden, sprachen belanglos vom Wetter und vermieden es, das nackte Kind anzusehen.
Das Mädchen stand einsam da und fror. Hurenmädchen. Sie wartete auf einen Blick, der sie wärmte, auf ein Wort, das die Scham abwusch, aber es war, als wäre sie gar nicht vorhanden. Ein Hurenmädchen. Gut genug für die stinkende Brühe. Zu schlecht für ein anständiges Leben.
Da wankte sie die Stiege hinauf in die Kammer. Gern hätte sie sich auf ihren Strohsack gelegt, geweint und sich gewärmt, doch das durfte sie nicht. Hurenmädchen. Das Wort der Mutter bohrte sich in ihren Kopf. Bis jetzt hatte sie, wie alle Mädchen, geträumt von einer Hochzeit, von einem Prinzen auf einem Pferd, von Kindern, dem eigenen Herd. Das Wort – Hurenmädchen – hatte alles weggewischt. Mit einem Wort hatte die Mutter dem Mädchen die Zukunft geraubt, die Träume, die Hoffnung und die Zuversicht.
Also blieb das Mädchen am Fenster stehen und ließ sich trocknen vom kalten Märzmorgenwind.
«Ich bin tot», flüsterte sie dabei und hielt sich selbst in den Armen. «Ich bin tot, tot, tot.»
Kapitel 5
Donnerstag war Gerichtstag. Das war immer so gewesen, war jetzt so, würde auch in Zukunft so sein. Am Donnerstag legte der Richter Heinz Blettner dem versammelten Rat seine Criminalia samt Protokollen vor, fügte an, welches Urteil seiner Meinung nach gesprochen werden musste, und der Rat, auf Lebenszeit von zweiundvierzig Mitgliedern gebildet und aus drei Bänken zu je vierzehn Mitgliedern bestehend, entschied.
Manchmal war man sich nicht einig im Rat. Es kam vor, dass die erste Bank, die ausschließlich den Patriziern vorbehalten war, zu einem anderen Schluss kam als die dritte Bank, auf der die Mitglieder der Zünfte ihre Plätze hatten.
Manchmal kam der Richter nicht zu einem eindeutigen Urteil. Dann mussten die Syndici, Rechtsgelehrte im Dienste der Stadt, heran, um Gutachten zu erstellen.
Heute lag der Fall jedoch klar, und die Syndici würden nicht gebraucht werden.
Richter Heinz Blettner trug seine Amtsrobe: einen schwarzen Anzug mit Stiefeln und Sporen, einen roten Mantel, verziert mit dem Stadtwappen samt weißem Adler, und ein Gerichtszepter.
Bevor er mit seinen Ausführungen begann, ließ er seinen Blick über die Ratsbänke huschen. Als er den Patrizier Hollenhaus erblickte, seufzte Blettner leise. Hollenhaus war ein Rechthaber, der es genoss, an jedem Gerichtstag seine ureigeneMeinung zum Fall lang und salbungsvoll auszubreiten. Blettner hatte im Grunde nichts gegen Schwätzer, er ärgerte sich nur, wenn sich das Gefasel bis in die Mittagszeit hineinzog und er zu spät zum Essen nach Hause kam.
Vorsorglich hatte sich Blettner heute eine Strategie zurechtgelegt, um Hollenhaus das Wort abzuschneiden, aber am liebsten hätte er sie nicht angewendet.
Nachdem der Gerichtsdiener mit der Glocke geläutet hatte, eröffnete der jüngere Bürgermeister, Blettners Vorgesetzter und zuständig für die Rechtsgeschäfte der Stadt, die Gerichtssitzung.
Blettner legte sich seine Papiere zurecht und begann. Er berichtete von der unbekannten Hure, vom Hund am Galgen und endete mit seinem Urteilsvorschlag: Selbstmord.
Schon meldete sich Hollenhaus: «Wie kommt Ihr, Hoher Richter, denn auf so einen Blödsinn? Selbstmord mit Hund? Das habe ich ja noch nie gehört!»
Blettner lächelte und verneigte sich ein wenig: «Ihr habt auch noch nicht alle Vöglein singen hören, und doch gibt es sie.»
Auf der Handwerkerbank brach Gelächter aus.
«Ich
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