Galgentochter
Er könnte einen ganzen Nachmittag damit verbringen, ein Brusttuch abzumessen. Immer schön dicht am Körper. Verstehen könnt’ ich die Vossin, hätte sie ihn erledigt. Aber ich traue ihr das nicht zu. Verhuscht, wie sie ist.»
«Die Geldwechslerin hat gesagt, der Altgeselle stehe schon bereit, den Brautstrauß zu pflücken.»
«Na, was denn sonst! Meinst du, er will ewig Geselle bleiben? Einer Werkstatt will er vorstehen. Die Vossin ist zwarkeine Schönheit, aber er kann sich ja im Bett Goldgulden auf die Augen legen.»
«Wie du redest, Mutter! Als ob es gar keine Liebe gäbe unter den Menschen.»
Gustelies lachte. «Doch, Liebe gibt es schon. Allerdings ist wahre Liebe seltener als Gold. Aber meinst du wirklich, der Voss ist auf immer verschwunden?»
Hella zuckte mit den Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls ist er weg. Mag sein, er taucht wieder auf. Mag sein, er bleibt, wo er ist.»
«Einen Mord vermutest du bis jetzt also nicht», sagte Gustelies und sah nach ihrem Kuchen.
«Nein, bisher nicht. Aber was nicht ist, das kann noch werden. Ich habe da so ein unbestimmtes Gefühl.»
«So?»
«Ja. Eine tote Hure unter dem Galgen, ein verschwundener Ehemann. Alles in zwei Tagen. Ich würde mich sehr wundern, wenn es da keinen Zusammenhang gäbe.»
Gustelies holte tief Luft. «Die meisten Dinge hängen miteinander zusammen. Aber nicht immer ist der Zusammenhang nach außen sichtbar. Wir müssten wissen, wie der Gewandschneider seine letzten Tage verbracht hat. Wäre es möglich, dass er mit der Hure zusammengetroffen ist? Haben die beiden möglicherweise gemeinsame Bekannte? Nachforschungen können wir aber nicht anstellen, denn ein verschwundener Ehemann ist nicht seltener als Schnee im Januar. Im Augenblick, fürchte ich, müssen wir einfach nur abwarten.»
Kapitel 8
«Nimm deine Sachen und pack dich!», fluchte die Hurenmeisterin und gab der Mutter einen derben Stoß. «Ich will dich hier nie wieder sehen! Den Gewandschneider hast du mir vergrault. Meinen besten Kunden! Eineinhalb Gulden will er zurückhaben für dein Gör, das sich angestellt hat wie die Jungfrau Maria.»
«Sie ist weg», flüsterte die Mutter. «Einfach weggelaufen!»
«Na und? Wirst sie schon finden. Alle laufen weg nach dem ersten Mal. Und alle kommen wieder. Die Scham ist es, die sie wegholt. Aber mit der Scham verdient man keinen roten Heller. Und jetzt geh, ehe ich dir Beine mache!»
Die Mutter tat, als hätte sie die Hurenwirtin nicht gehört. Sie trat zum Fenster. Der Morgen dämmerte schon, hob die Gegenstände behutsam ans Licht. Eine junge Birke bog sich im Wind. Dahinten, nahe dem Fluss, sah die Mutter eine Gestalt laufen. War es ein Fischer, der sein Boot zu Wasser ließ, um auf Krebsfang zu gehen? War es eine zeitige Wäscherin, die gleich ihren Korb ans Ufer stellte, sich die Steine zurechtlegte und das Holz, um die Wäsche zu schlagen? Oder war es das Mädchen?
«Wird’s bald?» Die Hurenwirtin hatte sich am Bündel der Mutter zu schaffen gemacht und warf nun wahllos die Dinge hinein, die in der Kammer lagen: einen Hornkamm mit herausgebrochenen Zinken, ein Lederband mit einemStein daran, ein Paar wollene Socken, die hart und kratzig waren.
«Lass das. Nimm die Finger von meinen Sachen!», fauchte die Mutter, sah noch einmal zum Fenster hinaus, doch die Gestalt war verschwunden. Wird ein Fischer gewesen sein, dachte sie, seufzte, steckte alles, was sie hatte, in das zusammengeknotete Tuch, warf es sich über die Schulter und kletterte hinter der Hurenwirtin die Stiege hinab. In der Gaststube brach sie sich ein Stück Brot von einem Laib; die Hurenwirtin sagte nichts. Dann stand sie schon auf der Straße. «Sag dem Mädchen, wenn es kommt, ich warte am Stadttor auf sie. Sag es ihr, hörst du?»
Die Hurenmeisterin nickte. «Wenn ich sie sehe.»
Sie zog das Umschlagtuch fester um sich. «Wirst schon klarkommen, warst nicht die Schlechteste.»
Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging schnell zurück ins Haus.
Ein Gerber mit Karren und Pferd kam vorbei. Das Leder auf seinem Wagen verströmte einen beißenden Geruch.
«Na, Hübschlerin, willst du mit in die Stadt?», fragte er und bleckte die Zähne. Die Mutter sah sich noch einmal um, ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, dann seufzte sie noch einmal und erwiderte: «Ja. Nimm mich mit. Ich zahle mit dem, was ich habe.»
Als der Gewandschneider mit dem Mädchen fertig gewesen war, hatte sie die Mutter und die Hurenwirtin weggestoßen,
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