Galgentochter
plötzlich nicht mehr erstarrt und versteinert. Aufgesprungen war sie und gelaufen: die Stiegen hinunter, durch die Gaststube zur Tür hinaus, die Gerbergasse entlang, in der es nach Lohe roch, über die Wiesen bis hinunter zum Fluss. Dort hatte sie sich auf einen Stein gesetztund nach Atem gerungen. Der Wind wehte, brachte erste laue Frühlingsluft. Das Mädchen hob den Rock, ließ den Wind zwischen ihre Beine. Der trocknete den Ausfluss des Gewandschneiders, das Blut. Das Mädchen saß und atmete. Ein und aus und ein und aus. Mit der Dämmerung kamen die Gedanken wieder. Jetzt bin ich eine Hure wie meine Mutter, dachte sie. Vielleicht ist es nicht so schlimm, eine Hure zu sein. Auch eine Magd wird bezahlt für das, was sie mit ihrem Körper macht.
Sie hatte nicht viel gespürt von dem Mann. Als sein Ast in ihr Loch fuhr, hatte sie die Augen geschlossen und ganz fest an die Pastete gedacht, die ihr die Mutter einmal auf dem Markt gekauft hatte. Ganz süß hatte sie geschmeckt, war ihr im Mund zerflossen wie Honig. Da war der Mann weg gewesen. Aber auch eine Pastete, die man in Gedanken aß, war einmal aufgegessen. Sie hatte sein Stöhnen wieder gehört, die Anfeuerungsrufe der Hurenmeisterin. «Stoßt rein in das Fötzchen. Gleich nochmal, damit sie Gefallen daran findet.»
Der Gewandschneider hatte sich aus ihr zurückgezogen. Das Mädchen hatte mit den Augen geblinzelt, hatte gesehen, wie die Hurenwirtin ihm ein feuchtes Tuch gab. Damit rieb er sich das Blut ab – ihr Blut.
«Komm, gib du dem Mann, was er bei deiner Tochter nicht bekommen hat», hatte die Hurenwirtin gerufen, die Mutter an den Haaren gepackt. Der Mann hatte seinen Ast in den Mund der Mutter geschoben, und sie hatte daran gelutscht, als wäre es ein Eiszapfen. Dabei hatte er der Mutter den Kopf getätschelt und zu ihr gesprochen wie mit einer Kuh: «Brav, brav.»
Und dann hatte er gestöhnt, hatte der Mutter einen leichten Stoß vor die Brust versetzt, sodass sie nach hintenkippte. Die Hurenmeisterin hatte dem Mädchen wieder die Beine nach oben und hinten gedrückt, und der Mann war in sie eingedrungen, dass sie leise aufschrie.
«Stell dich nicht an», hatte der Mann gerufen und war auf ihrem Körper hin und her gewippt. Das Mädchen hatte sein Gesicht gesehen, hatte in die hellen, eisgrauen Augen des Mannes geschaut, und der Mann hatte den Blick erwidert. Zuerst hatte er gelächelt und gesagt: «Jetzt gefällt es dir auch, nicht wahr, mein Täubchen.» Das Mädchen hatte ihn weiter stumm angeschaut. Der Mann hatte die Stirn in Falten gelegt, alles Freundliche schwand aus seinen Augen. Er hatte die Augen ganz schmal gemacht, und seine Blicke waren wie Stiche. Aber das Mädchen schaute nicht weg. Er beugte sich über sie, sodass sein Gesicht über ihrem hing. Seine Wangen hingen schlaff herab. Das Mädchen hatte die runzligen Lider sehen können und die großen Poren in seiner Haut. Er kam immer näher, seine Augen kamen immer dichter. Sie wusste, es wäre besser, wenn sie den Blick abwandte, sich geschlagen gab, aber sie konnte es nicht. Sie hing an seinem Blick wie eine Puppe an Fäden. Der Mann öffnete die Lippen und keuchte. Speichel tropfte auf ihr Gesicht, doch sie sah ihn noch immer an. Der Mann kniff die Augen zusammen, wollte sie zwingen mit seinem eisgrauen Blick, doch sie hielt stand. Wusste nicht, warum. Wusste nur, sie musste ihn anstarren. Immer weiter, immer länger, immer drängender.
«Gib mir ein Tuch!», schrie der Mann die Hurenmeisterin an. Und die Meisterin riss ein Stück von des Mädchens Rock und reichte es ihm. «Leg es ihr auf das Gesicht», forderte er, und die Hurenwirtin tat es.
Da erst schloss das Mädchen die Augen.
Jetzt saß sie auf dem Stein, ließ sich vom Wind streicheln,spürte ihn kaum, spürte dafür das Klebrige an der Innenseite ihrer Schenkel, das Klebrige des Mannes.
Schlimm ist es nicht, eine Hure zu sein, dachte sie. Schlimm ist es, wie die Mutter zu sein. Die Mutter mit ihren rohen Reden, ihrem grellen Lachen und ihrer Dummheit. Ja, sie wusste, dass die Mutter dumm war. Wäre sie es nicht, so hätte sie für sich gesorgt. Vielleicht war es aber auch anders. Vielleicht war die Mutter nicht dumm, sondern faul. Zu faul, um für sich zu sorgen. Zu faul, sich ihrer selbst zu schämen. Zu faul, um irgendetwas an ihrem jämmerlichen Leben zu ändern.
Die Mutter war ihr Unglück, nicht der Mann, der sie zur Hure gemacht hatte. Es war nicht sein Ast, der das Mädchen getötet hatte. Es war sein
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