Galgentochter
zu einer Erscheinung ihrer Heldin wissen. Wenn du aber kommst, Hella, dann weiß ich, dass der Wind vom Malefizamt her weht. Was also gibt es?»
«Nichts eigentlich», beteuerte Hella und senkte den Kopf. Jutta Hinterer hatte sie schon als kleines Kind gekannt, und Hella hatte manchmal den Eindruck, dass die Geldwechslerin ihre Gedanken lesen konnte.
«Hier gibt es auch nichts Neues. Die Männer huren, saufen und prügeln, und der Herrgott, auch ein Mann, sieht ihnen dabei zu. So ist das.» Jutta Hinterer sah Hella fest und fragend in die Augen. Sie war, Hella wusste das, wild entschlossen, erst mit einer Neuigkeit herauszurücken, wenn sie von Hella ebenfalls etwas Neues erfuhr.
«Also gut. Der Gewandschneider Voss aus dem Hirschgraben ist verschwunden.»
«Ach was?», fragte Jutta Hinterer. «Hat seine Alte ihm endlich den Schädel gespalten?»
«Wie kommt Ihr darauf?»
«Geprügelt hat er sie, wann immer sie ihm über den Weg lief. Er hat sie verspottet, lächerlich gemacht vor Kunden und anderen. Ein Drecksstück von einem Kerl. Den Hürchen am Mainufer hat er schöne Augen gemacht, die Weiber beim Anmessen der Kleider betatscht, sodass keine mehr zu ihm gehen mag.»
«Jetzt ist er fort. Seit gestern Mittag schon.»
Jutta Hinterer faltete die Hände und sah theatralisch zum Himmel: «Herr, hast du ein Einsehen gehabt?»
«Die Vossin sorgt sich», wandte Hella ein.
«Sorgt sich? Dass ich nicht lache! Eine Kerze wird sie stiften vor Glück. Sie wird ihre Tochter einhaken und mit ihr ums Herdfeuer tanzen.»
«Ihr täuscht Euch, Hintererin. Sie sorgt sich wirklich. Was soll werden, wenn er nicht wiederkommt?»
«Feiern wird sie, ich sag’s ja. Wird den Altgesellen heiraten und noch ein paar gute Tage haben. Das wird sein. Macht ihm schon lange schöne Augen, die brave Vossin. Kein Wunder, bei dem, den sie zum Manne hat.»
«Und warum zeigt sie dann an, dass er verschwunden ist?»
«Kind, bist das Weib eines Richters und weißt nichts von der Welt. Herr Jesus, sie will ihn, wenn das Jahr um ist, für tot erklären lassen, weil sie sonst den Altgesellen nicht heiraten kann. So ist das.»
Hella nickte nachdenklich, dann fragte sie: «Und Ihr wisst nicht, wo er stecken könnte?»
Die Hintererin lehnte sich in ihrem Lehnstuhl zurück, presste die Hände vor die Brust. «Ich? Geh mir fort mit den Kerlen. Sollen sie bleiben, wo sie sind. Ein verschwundener Kerl ist der beste Kerl.»
Hella zog die Unterlippe zwischen ihre Zähne und nagte darauf herum.
«Bist du nicht überzeugt?», fragte die Geldwechslerin. «Du kannst mir ruhig glauben. Eine Welt ohne Männer, hach, das wäre ein feines Leben. Kein Streit, keine Prügel, keine Kriege, keine Würfelbuden.» Sie beugte sich nach vorn, winkte Hella zu sich und flüsterte: «Wenn Gott eine Frau wäre, ging’s uns allen besser!»
Hella lächelte, während die Geldwechslerin laut herausprustete und sich auf die Schenkel schlug.
«Und sonst? Gibt es sonst etwas Neues?», fragte Hella.
Die Hintererin schüttelte den Kopf. «Nichts, das dich interessiert, mein Kind. Ein Kaufmann aus Köln, zwei aus Straßburg, die mit dem Schiff gekommen sind. Eine Häuslerin aus der Vorstadt hat Zwillinge bekommen, einer Gerbersfrau ist über Nacht die Hecke vertrocknet. Im April! Mag sein, dass der Teufel seine Hand im Spiel hat.»
Hella tat, als würde sie der Geldwechslerin glauben, wusste aber längst, dass für sie die Begriffe «Teufel» und «Mann» dieselbe Bedeutung hatten. Sie grüßte, dann ging sie.
Vor dem Römer hatten die Händler ihre Buden und Tische aufgebaut. Bäuerinnen aus der Umgebung boten selbstgesponnene Wolle an, andere hatten Butterfässchen vor sich stehen. Von einer Garküche drang der Geruch nach altem Fett herüber. Eine Pastetenverkäuferin stritt mit einer Magd, am Stand eines Schwertschmiedes hatte die Händlerin einen Knüppel erhoben und drohte einem Taschendieb. Zwei Handwerkerinnen stritten um ein Stück Borte, und an den Rändern des Marktes saßen die Krüppel, streckten ihre Beinstümpfe hervor und heulten um einen Groschen.
Hella hörte und sah jedoch nichts von alledem. Noch immer war sie in Gedanken mit der toten Wanderhure beschäftigt und mit dem Gewandschneider. Ob sein Verschwinden etwas mit dem Tod der Frau zu tun haben konnte?
Oder hatte die Geldwechslerin recht? Was hatte sie gesagt? «Hat sie ihm endlich den Schädel gespalten?» Ja, das hatte sie gesagt. Und auch, dass die Gewandschneiderin dem Altgesellen schöne
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