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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Blick gewesen, ein Blick voller Hass, ein Blick, der tötete. Unter solchen Blicken war die Mutter seit Jahren immer wieder gestorben. Sie hatten sie ausgelöscht und zur lauten, schrillen Hülle gemacht. Zu einer Frau, die grob und ordinär sein musste, um sich selbst zu hören und zu fühlen. Das, und nur das war das Verhurte an der Mutter.
    Das Mädchen wusste, der Gewandschneider hätte sie ausgelöscht unter sich, hätte sie den Blick abgewandt. Er war eingedrungen in ihre Augen, in ihren Kopf. Sie hatte in seinem Blick lesen können, dass er sie für dumm und faul und schlecht hielt. Für ein Stück Dreck. Gerade gut genug, seinem Samen Einlass zu geben. Samen, der stank und klebrig und zu nichts nütze war. Samen, der absterben und verwesen würde in ihrem Schoß. Der Gewandschneider würde sie nie von seinem Teller essen, nie in seinem Bett schlafen, nie seine Kleidung berühren lassen. Nicht einmal sprechen würde er mit ihr, wenn er aufgestanden war. Er hatte ihr Gesicht mit einem Tuch abgedeckt. Als wäre es so hässlich,dass er es nicht ertragen konnte. Doch ihren Blick hatte er nicht ertragen. Er war es, der den Blick zuerst abgewandt hatte, der ein Tuch zwischen seine Augen und ihre gelegt hatte. Er hatte verloren und war doch stärker gewesen als sie. Er hatte die Macht, nach einem Tuch zu greifen, das Mädchen verschwinden zu lassen. Er war der Überlegene gewesen und das Mädchen ausgelöscht und tot.
    Und jetzt? Sie saß auf dem Stein, sah zu, wie die Sonne den Hügel am Horizont hinaufkroch. Behäbig kroch sie, diese Sonne, die noch nicht wärmte. Mit großer Selbstverständlichkeit, weil es ihre Aufgabe war und es nichts gab, das statt ihrer scheinen konnte. Nicht die Kerzen, nicht der Mond. Nur sie konnte den Tag erhellen. Deshalb konnte sie so behäbig den Hügel emporklimmen.
    Das Mädchen schlug den Rock über die Knie, wusste, dass sie nie eine Sonne sein würde. Für niemanden und auch nicht für sich selbst. Sie war schon erloschen, war schon jetzt kalt und dunkel. Sie war erst dreizehn Jahre alt und wusste doch, dass es immer nur Männer in ihrem Leben geben würde, die ihr das Gesicht mit einem Tuch bedeckten. Sie wünschte sich, dumm zu sein wie die Mutter. Oder faul. Dann wüsste sie nichts, könnte einfach aufstehen und gehen. Vielleicht zurück zum Hurenhaus. Sie könnte versprechen, sich von nun an nicht mehr anzustellen. Dann hätte sie es warm im Winter und würde satt werden für eine Zeit. Aber sie war nicht dumm. Es würde nicht gehen. Immer würde sie die Männer zwingen, ihr ein Tuch über die Augen zu legen. So lange, bis es sich herumgesprochen hätte und niemand mehr zu ihr kommen wollte.
    Sie konnte nicht aufstehen und sich in der Stadt nach einer Anstellung umsehen. Auch dort würden sich die Menschen vor ihren toten Augen ängstigen. Sie würden sieverjagen, würden vom Teufel sprechen, der in ihr steckt. Vielleicht würden sie ihr heimlich einen silbernen Löffel in die Rocktasche legen, damit sie einen Grund hätten, sie loszuwerden.
    Ich bin tot, dachte das Mädchen. Nur mein Körper lebt noch. Wäre ich ihn los, dann hätte ich Ruhe.
    Sie sah über den Fluss, der so blau war, dass ihre Augen schmerzten. Einmal hatte sie im Hurenhaus jemanden sagen hören, dass der Fluss blau würde, wenn er sank. Und graubraun, wenn er stieg. Sie hatte vergessen, warum das so war. Vielleicht, weil der Fluss beim Steigen den Dreck vom Ufer spülte. Heute war er blau. Heute sank er oder blieb, wie er war.
    Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Es war ein Hund, der aus der Vorstadt kam. Schwarz war er, mit verklebtem Fell, ein Auge ausgehöhlt. Er kam zu ihr, legte sich zu ihren Füßen nieder, winselte. Das Mädchen strich ihm über das Fell, verjagte die Fliege, die in die leere Augenhöhle kroch, in der schon Maden wimmelten.
    Sie beugte sich nach vorn dabei, spreizte die Beine. Da stand der Hund auf, schnüffelte unter ihrem Rock, schob ihn mit der Schnauze zur Seite. Das Mädchen spürte seine raue Zunge, senkte den Kopf, sah die rosa Zunge des Hundes, die das getrocknete Blut, den stinkenden Samen von ihr leckte.
    Da packte sie die Wut. Sie konnte es nicht ertragen, dass es ein Lebewesen gab, das noch niedriger war als sie, das so niedrig war, dass es sich an ihrer Scham gütlich tat. Sie trat nach dem Hund, trat gegen seine Schnauze, dass er aufheulte. «Hau ab!», schrie sie. Der Hund fletschte die Zähne, begann zu bellen. Er wich ihren Tritten aus, schnappte nach ihrer Wade.

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