Galgentod
Kavaliersstart hätte nicht besser gelingen können. In nur wenigen Sekunden gelangte er schon zur ersten Ampel, die zu seiner Freude um diese Uhrzeit noch ausgeschaltet war.
Die Uhr zeigte gerade mal halb fünf an und der Tag war schon dabei zu erwachen. Die Sonne zeigte sich rot am östlichen Horizont und versprühte tatsächlich schon Wärme. Dieser Sommer sollte ihm eigentlich gefallen, weil das genau das Wetter war, das er liebte. Aber leider vermieste ihm so manches die Freude daran. Ständig kehrten seine Gedanken zurück zu Mirna, die seinen Schlaf gnadenlos ausgenutzt hatte, um ihn zu verführen.
Meine Güte, stöhnte Erik. Wie nah war sie dran gewesen? Er konnte es immer noch nicht fassen. Er hatte ernsthaft überlegt, es geschehen zu lassen. Er rieb sich mit einer Hand durch das Gesicht, als könnte er damit seine Verzweiflung wegwischen. War es richtig, was er jetzt tat?
Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sein erster Gedanke Bernhard Diez galt, weil der ehemalige Kollege besser als jeder andere verstehen konnte, was Erik gerade durchmachte. Erik schaffte es einfach noch nicht, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen es auf seine berufliche Situation hätte, wenn er Jürgen Schnur von diesem Debakel erzählen würde. Zu genau erinnerten sich alle in der Abteilung noch daran, warum Bernhard Diez nicht mehr bei ihnen arbeitete. Wollte Erik das auch riskieren?
Sämtliche Ampeln in der Egon-Reinert-Straße waren ausgeschaltet. Was für in Luxus. Erik konnte ungehindert hindurchjagen. Umso schneller stand er vor Bernhards Wohnung in der Deutschherrenstraße. Von unten aus konnte Erik kein Licht in den Fenstern seiner Wohnung stehen. Aber das musste nicht viel heißen. Immerhin war schon Dämmerung hereingebrochen.
Auf sein Klingeln reagierte niemand.
Nervös stellte Erik den Knopf auf Dauerklingeln, bis endlich der Türsummer ging. Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er hinauf in den fünften Stock.
Bernhard stand in Unterhose in der Tür. Als er Erik sah, ließ er die Tür offen und trat ins Innere zurück.
»Scheiße, Mann! Was willst du?«
»Zieh dir was an, dann reden wir«, bestimmte Erik. »Mit nackten Männern rede ich nicht so gerne.«
»Wenn du mir in der Zwischenzeit ein paar Liter Kaffee kochst. Anders kriegst du mich um diese Zeit nicht wach. Immerhin habe ich bis vor einer halben Stunde Nachtwache geschoben.«
Das hatte Erik total vergessen. Aber es tat ihm trotzdem nicht leid, dass er Bernhard aus dem Schlaf gerissen hatte. Er brauchte jetzt einen Freund, der zusätzlich auch technisches Know-how hatte. Und das war eben Bernhard.
Zielstrebig steuerte er die Küche an. Eine große Kaffee-Pad-Maschine fiel ihm sofort ins Auge. Also würde einem Kaffee – oder vielleicht sogar zwei – nichts im Wege stehen. Die Bedienung war einfach. Wasser auffüllen, Pad einlegen und Knopf drücken. Ein Knacken kündigte an, dass die Maschine lief. Jetzt fehlten nur noch Tassen. Erik öffnete die Schränke und fand Kondome, Playboy-Zeitschriften und Computerspiele. Aber keine Tassen. Einer Eingebung folgend zog er eine Schublade aus einem kleinen, unscheinbaren Seitenschränkchen und Bingo: Dort waren die Tassen. Sogar zwei saubere Exemplare darunter. Er zog eine heraus und las die Aufschrift »Ohne mich ist alles doof«. Sofort musste Erik schmunzeln. Die Suspendierung vom Polizeidienst hatte Bernhards Ego nicht geschadet. Die zweite war neutral. Die nahm er für sich selbst.
Als er mit zwei dampfenden Kaffeetassen zurückkehrte, saß Bernhard am Tisch und rieb sich immer noch die Augen in dem Bemühen, wach zu werden. Seine Nase erschnüffelte den Duft von Kaffee, schon ging es ihm besser. Nachdem er sich mehrere Male den Mund an dem heißen Zeug verbrannte hatte, forderte er Erik auf, seine Geschichte zu erzählen.
Erik begann zu erzählen. Es dauerte eine Weile, bis er die ganze Geschichte losgelassen hatte. Zum Abschluss atmete er noch einmal tief durch und schaute in Bernhards Gesicht.
Was er da sah, beruhigte ihn augenblicklich. Keine Geringschätzung, kein hämisches Lachen, nichts. Sein Gesicht drückte lediglich Besorgnis aus.
»Und was ist mit dem Handy, das du da in einer Hand hältst?«
»Das ist das Handy, das ich Yannik Hoffmann abgenommen habe.«
Bernhard nahm es an sich und sah sofort, dass es noch eingeschaltet war. »Das ist praktisch. Jetzt hängen wir das Teil an meinen Computer und schauen uns mal an, welche Verbindungen dieser Yannik hatte. Und vielleicht
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